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Psychiatrie und Strafjustiz

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Analoge Lern- <strong>und</strong> Annäherungsprozesse lassen sich auch seitens der psychiatrischen scientific community<br />

feststellen. Exemplarisch zeigt sich dies anhand der Diskussionen innerhalb des Vereins schweizerischer Irren-<br />

ärzte in den Jahren 1901/02. Zu Sprache kamen dabei acht Postulate, die der Münsterlinger Psychiater<br />

Ludwig Frank (1863–1935) zum Thema «<strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> Strafrechtspflege» aufgestellt hatte. Nebst einer<br />

verbesserten psychologischen Ausbildung für Juristen forderte Frank, dass die Kompetenz zur Beurteilung<br />

der Zurechnungsfähigkeit allein den psychiatrischen Sachverständigen zustehen solle. Auch verlangte er,<br />

dass psychiatrische Gutachten für die Justizbehörden Verbindlichkeit erhalten sollten. 477 Anlass zu grösse-<br />

ren Diskussionen gab vor allem der letztgenannte Punkt, der ganz in der Tradition psychiatrischer Kompetenzforderungen<br />

gegenüber der Justiz stand <strong>und</strong> bei seiner Verwirklichung eine merkliche Verschiebung<br />

der Kompetenzen zu Gunsten der psychiatrischen Sachverständigen bedeutet hätte. Bereits im Vorfeld<br />

der Versammlung von 1902 hatte der Berner Strafrechtler Wolfgang Mittermaier (1867–1956) die Irren-<br />

ärzte zur Mässigung aufgerufen. Die Psychiater seien, so Mittermaier, nicht berechtigt, sich als eine «Art<br />

Schutzkomitee gegenüber den Juristen» aufzuspielen. Vielmehr sollten sich beide Disziplinen «gegenseitig<br />

unterstützen». Auch innerhalb der Irrenärzte stiess Franks Votum für eine Bindungswirkung psychiatri-<br />

scher Gutachten auf Kritik. Namentlich wurde bemängelt, dass eine solche Forderung die langjährigen<br />

Bemühungen der Psychiater um eine bessere Ausbildung der Juristen auf psychiatrischem Gebiet unterlau-<br />

fen würde. Die innerhalb der Disziplin laut werdende Kritik veranlasste Frank letztlich dazu, selbst die<br />

Streichung dieses Antrags zu verlangen. Die 1902 verabschiedete Fassung der Postulate lautete schliesslich<br />

deutlich gemässigter als die ursprüngliche Variante. 478 Dieser Konflikt innerhalb der psychiatrischen Stan-<br />

desorganisation ist insofern bemerkenswert, als sich die Schweizer Psychiater explizit von der Tradition<br />

psychiatrischer Kompetenzforderungen distanzierten <strong>und</strong> sich zur Strategie bekannten, auf dem Weg einer<br />

gegenseitigen Sensibilisierung zu einer pragmatischen Verständigung mit der Juristenschaft zu gelangen.<br />

Damit verb<strong>und</strong>en war die Anerkennung der sich im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts herausgebildete Kompe-<br />

tenzverteilung zwischen den beiden Disziplinen sowie die Erkenntnis, dass dieses Zugeständnis eine ar-<br />

beitsteilige Kriminalitätsbewältigung keineswegs ausschloss.<br />

Das Herausbilden kommunikativer Netzwerke im Umkreis der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht trug<br />

massgeblich dazu bei, dass in der Schweiz seit den 1890er Jahren psychiatrische Deutungsmuster kriminel-<br />

len Verhaltens <strong>und</strong> medizinische Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte auch ausserhalb der psychiatrischen<br />

scientific community Anschlussfähigkeit gewannen. Das Angebot der Strafrechtsreformer an die Adres-<br />

se der Psychiater, sich an der Zeitschrift zu beteiligen, erlaubte den Schweizer Psychiatern, ihre Fachkom-<br />

petenzen zu demonstrieren <strong>und</strong> ihre kriminalpolitischen Anliegen wirksam zu artikulieren. Die meisten an<br />

der Zeitschrift beteiligten Juristen waren gr<strong>und</strong>sätzlich vom Nutzen einer interdisziplinären Zusammenar-<br />

beit überzeugt, wenngleich die Vorstellungen über den Stellenwert, den das künftige Einheitsstrafrecht<br />

den psychiatrischen Sachverständigen einräumen sollte, auseinander gingen. Die publizistische Zusam-<br />

menarbeit im Rahmen der Zeitschrift förderte sowohl seitens der Juristen, als auch seitens der Psychiater<br />

interdisziplinäre Lernprozesse. Diese führten dazu, dass an die Stelle eines antagonistischen Konfliktdis-<br />

kurses zunehmend ein Verständigungsdiskurs trat, der die arbeitsteilige Bewältigung kriminellen Verhal-<br />

tens durch beide Disziplinen in den Vordergr<strong>und</strong> rückte. Der von Meyer von Schauensee <strong>und</strong> Forel in der<br />

Tradition des frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>erts geführte «Grenzdisput» stellte denn auch eher eine Ausnahmeer-<br />

scheinung dar. Die Zunahme der interdisziplinären Vernetzung zwischen Juristen <strong>und</strong> Psychiatern blieb<br />

indes nicht auf eine publizistische Zusammenarbeit beschränkt. Die Debatte um die Postulate Franks<br />

zeigt, dass seitens der Psychiater einem forensisch-psychiatrische Lehrangebot an den Universitäten, das<br />

477 ASGP, Protokoll des Vereins schweizerischer Irrenärzte, 1901, 20-22; Frank, 1901, 362f,<br />

478 ASGP, Protokoll des Vereins schweizerischer Irrenärzte, 1902, 19-22.<br />

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