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Psychiatrie und Strafjustiz

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ung der straf- <strong>und</strong> zivilrechtlichen Verantwortlichkeit von Frauen angeführt. 1051 So schloss der Berliner<br />

Stadtarzt Johann Theodor Pyl (1749–1794) beispielsweise 1785 die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer<br />

52jährigen Frau, die das Kind einer Nachbarin umgebracht hatte, mit der Begründung aus, diese habe ihre<br />

«monatliche Reinigung» verloren, was zu einer «Schwächung» des Körpers <strong>und</strong> der seelischen Kräfte ge-<br />

führt habe. 1052 Eingehend mit der Stellung der Frau vor Gericht befasste sich an der Wende zum 19. Jahr-<br />

h<strong>und</strong>ert der französische Gerichtsmediziner François-Emanuel Fodéré (1764–1735). Er sah 1799 die Un-<br />

terschiede der Geschlechter in der «Natur» selbst begründet <strong>und</strong> leitete daraus die notwendige Schonung<br />

des «schwächeren Geschlechts» vor der Härte des Gesetzes ab. Für Fodéré waren Menstruation, Schwangerschaft,<br />

Wochenbett <strong>und</strong> Laktationsperioden Zustände, die eine strafrechtliche Gleichbehandlung von<br />

Frauen ausschlossen. 1053 Im Zuge der Durchsetzung des bürgerlichen Geschlechtermodells <strong>und</strong> der damit<br />

einhergehenden Ausbildung einer «weiblichen Sonderanthropologie» verfestigte sich die teilweise Aus-<br />

nahmestellung von Frauen in der gerichtsmedizinischen Praxis weiter. 1054 Zusätzlich Auftrieb erhielt die<br />

Ansicht, dass Frauen stärker als Männer bei ihrem Handeln durch ihre körperliche «Geschlechtsnatur»<br />

bestimmt werden, durch die Entstehung der Gynäkologie als medizinische Spezialdisziplin, an deren An-<br />

fang das berühmt gewordene Diktum des Arztes Rudolf Virchow stand: «Alles, was wir an dem wahren<br />

Weibe Weibliches bew<strong>und</strong>ern <strong>und</strong> verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks.» 1055 Auf eine solche<br />

«Dependenz» der weiblichen Geschlechtsorgane führten die Ärzte der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

immer häufiger auch psychische Auffälligkeiten von Frauen zurück. Vor allem das Krankheitsbild der<br />

«Hysterie» galt als Inbegriff einer zunächst im Uterus <strong>und</strong> dann in den Ovarien lokalisierten «weiblichen<br />

Schwäche». Dementsprechend versuchten Gynäkologen durch Kastrationen <strong>und</strong> Verstümmelungen der<br />

weiblichen Geschlechtsorgane dem Auftreten von «hysterischen» Symptomen wie Kopfschmerzen,<br />

Schwindelanfällen, erhöhter Empfindlichkeit oder Frigidität Herr zu werden. 1056 Gleichzeitig wollten die<br />

Ärzte im Verhalten vieler «Hysterikerinnen» aber lediglich eine ins Pathologische überspitzte Variation des<br />

«normalen» weiblichen Geschlechtscharakters sehen. 1057 Im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts geriet<br />

allerdings auch die «Hysterie» in den Sog der psychiatrischen Degenerationstheorie. Als primäre Ursache<br />

«hysterischer» Symptome galten jetzt nicht mehr die weiblichen Geschlechtsorgane, sondern ein «entarte-<br />

ter Charakter» oder eine «psychopathische Konstitution». 1058 Konsequenterweise erfasste die Diagnose<br />

«Hysterie» zunehmend auch Männer. 1059 Neuere psychiatrische Deutungsmuster wie die «Psychopathie»,<br />

die abweichendes (Sexual-) Verhalten auf «minderwertige Anlagen» <strong>und</strong> angeborene «Abnormitäten» des<br />

Nervensystems zurückführten, waren denn auch weitgehend geschlechtsneutral konzipiert. Dadurch wur-<br />

de gleichzeitig der Stellenwerte der «weiblichen Sonderanthropologie» relativiert. 1060<br />

In seiner Gerichtlichen Psychopathologie fasste Krafft-Ebing den gerichtsmedizinischen Erfahrungsbestand<br />

über eine «weibliche Schwäche» prägnant zusammen: «Gleichwohl weiss jeder erfahrene Arzt, dass bei<br />

zahllosen Weibern mächtige Beeinflussungen der Psyche durch den menstrualen Vorgang etwas Alltägli-<br />

ches sind <strong>und</strong> sich nicht selten bis zur Höhe akuter psychopathischer Zustände erstrecken.» Unter Beru-<br />

1051 Lorenz, 1999, 208-225, 296f., 433; Wernz, 1993.<br />

1052 Fischer-Homberger, 1983, 132f.<br />

1053 Fischer-Homberger, 1983, 131f.<br />

1054 Vgl. Sarasin, 2001, 89-94, 192-196, 369-375; Schmersahl, 1998; Honegger, 1991, 126-167, 182-192. Zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit<br />

von Frauen: Meichtry, 1994, 28, 75, 121f., 150f.; Niehaus, 1998; Fischer-Homberger, 1979, 64-67.<br />

1055 Rudolf Virchow im Jahre 1848, zitiert: Honegger, 1991, 210.<br />

1056 Schaps, 1992, 48-51.<br />

1057 Weickmann, 1997, 50.<br />

1058 Vgl. Schmersahl, 1998, 230-236; Shorter, 1989. Für die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong>: Wüthrich, 1995, 24-29.<br />

1059 Vgl. Lengwiler, 2000, 77-104; Kaufmann, 1999; Weickmann, 1997, 83-107.<br />

1060 Fischer-Homberger, 1979, 81f., 84. Für die forensisch-psychiatrische Praxis weniger bedeutend waren indes psychoanalytische<br />

Ansätze, die dem biologischen Geschlecht ebenfalls eine untergeordnete Rolle beimassen.<br />

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