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Psychiatrie und Strafjustiz

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gen zur Bildung <strong>und</strong> Entwicklung von Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> Gewissenskraft abgehen». 700 Glaser, der<br />

seine Argumentation in dem erwähnten Gutachten von 1901 wieder aufnahm, wollte weder den ges<strong>und</strong>en<br />

noch den kranken Rechtsbrecher für dieses «Missverhältnis zwischen rechtswidrigem Antrieb <strong>und</strong> dem<br />

Einspruch des Gewissen» verantwortlich machen. Dies führte hin schliesslich dazu, das Konzept der Wil-<br />

lensfreiheit, wie es dem bürgerlichen Strafdiskurs zugr<strong>und</strong>e lag, zu verwerfen. 701 Ebenfalls 1887 referierte<br />

Glaser vor dem Hilfsverein für Geisteskranke über die «Erkennung <strong>und</strong> Beurteilung wenig ausgeprägter Geis-<br />

tesstörungen» <strong>und</strong> kam dabei ausführlich auf die «Grenzgebiete geistiger Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit» zu<br />

sprechen. Er thematisierte unter anderem die Zustandsbilder der «moralischen Verrücktheit» <strong>und</strong> des<br />

«affektiven Irreseins», die er auf erbliche Belastung <strong>und</strong> mangelhafte Erziehung zurückführte. Folge dieser<br />

Zustandsbilder sei der «mehr oder weniger hochgradige Mangel der ges<strong>und</strong>en, normal beschaffenen, so<br />

genannten freien Willensbestimmung <strong>und</strong> die daraus resultierenden, zahlreiche, ungewöhnlichen, egoisti-<br />

schen, unmoralischen <strong>und</strong> unerlaubten Handlungen dieser Menschen». 702<br />

Glasers Ausführungen aus den 1880er Jahren sind insofern bemerkenswert, als sie die diskursive Matrix<br />

des Psychopathiekonzepts vorwegnahmen, wie sie in Kapitel 3.2 beispielhaft anhand der einschlägigen<br />

Lehrbücher Kraepelins herausgearbeitet worden ist. Deutlich zeigt sich in diesem Zusammenhang, dass<br />

die neuen Deutungsmuster kriminellen Verhaltens durch Leitautoren wie Kraepelin lediglich eine retro-<br />

spektive Stabilisierung auf Lehrbuchebene erfuhren. Ihre Aneignung in der forensisch-psychiatrischen<br />

Praxis hatte dagegen – wenn auch in unsystematischer Form – schon bedeutend früher eingesetzt. Glasers<br />

Beiträge verdeutlichen zudem, dass die Berner <strong>Psychiatrie</strong> bereits in den 1880er Jahren den Anschluss an<br />

den deutschsprachigen <strong>Psychiatrie</strong>diskurs gef<strong>und</strong>en hatte. Ganz im Sinne des Psychopathiekonzepts for-<br />

derte Glaser eine verstärkte Berücksichtigung der voluntativen <strong>und</strong> affektiven psychischen Fähigkeiten bei<br />

der psychiatrischen Begutachtung. Seine Argumentation bezog sich bereits 1887 auf die Zustandsbilder<br />

des «moralischen Schachsinns» oder «affektiven Irreseins», wie sie zur gleichen Zeit auch von Krafft-<br />

Ebing beschrieben wurden. Indem Glaser kriminelles Verhalten primär als Folge eines «Gewissensdefizits»<br />

<strong>und</strong> einer krankhaft verminderten «Widerstandskraft» gegenüber kriminellen «Antrieben» betrachtete,<br />

brach er entschieden mit der Auffassung, wie sie Emmert vertrat, dass kriminelles Verhalten lediglich im<br />

Zusammenhang mit Wahnideen <strong>und</strong> intellektuellen Defiziten für den Psychiater von Interesse sei <strong>und</strong><br />

ansonsten in die Zuständigkeit der Justiz gehöre. Die kritische Umkehrung der Willenssemantik des bürgerlichen<br />

Strafdiskurses diente hier zugleich dazu, den Gegenstandsbereich der <strong>Psychiatrie</strong> potenziell aus-<br />

zuweiten. Glaser modellierte ges<strong>und</strong>es <strong>und</strong> krankhaftes kriminelles Verhalten nach den gleichen Prinzipien<br />

<strong>und</strong> postulierte damit ein Kontinuum zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit. In Bezug auf die Willensfrei-<br />

heit verneinte er sogar jede Grenzziehung <strong>und</strong> unterminierte damit den Rechtsbegriff der Zurechnungsfä-<br />

higkeit. Seine Argumentation mündete konsequenterweise in die Konzeptualisierung eines offenen Über-<br />

gangsbereichs zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit. Schliesslich bezeichnete Glaser eine «defekte Geistes-<br />

anlage» als die primäre Ursache solcher «Grenzzustände».<br />

Mehr als zwanzig Jahre später referierte Glaser erneut vor dem Hilfsverein für Geisteskranke über die<br />

Zustandsbilder des «moralischen Schwachsinns» <strong>und</strong> der «Psychopathie». Als «moralische Idioten» be-<br />

zeichnete er Menschen, die gegenüber «normalen Menschen» einen «Mangel an Verständnis <strong>und</strong> Gefühl<br />

für die Vorstellungen von Sitte, Moral <strong>und</strong> Recht» besitzen würden. Gerade deshalb gingen bei ihnen die<br />

Urteile von Laien <strong>und</strong> Psychiatern so oft auseinander: «Sie gelten im Publikum nicht als krank, sondern als<br />

bös. Sie gehören zu der grossen <strong>und</strong> unglücklichen Gruppe der geistig Minderwertigen <strong>und</strong> sind vielfach<br />

700 Glaser, 1888, 101.<br />

701 Glaser, 1901, 368.<br />

702 Glaser, 1887, 23.<br />

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