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Psychiatrie und Strafjustiz

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politische Pflicht der Sachverständigen an – <strong>und</strong> zwar weitgehend unabhängig davon, wieweit die psychi-<br />

atrische Wissenschaft das Feld des «Abnormen» ansteckte.<br />

«Wissenschaft ist nicht Politik»<br />

Der von Maier ursprünglich angegriffene Charlot Strasser schloss sich 1927 in seinem Buch <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong><br />

Strafrecht der Kritik Edlins weitgehend an. Strasser lehnte als einer der wenigen Schweizer Psychiater das<br />

Psychopathiekonzept als «Kübel der Irrenärzte» gr<strong>und</strong>sätzlich ab: «Psychopathie ist [...] ein Ich-weiss-<br />

nicht-recht-was für den Psychiater, eine Etikette für <strong>und</strong>efinierbare Lumpen, für verschiedene Qualitäten<br />

unklarer Verbrechernaturen oder sonst ein wenig un- oder antisozial sich benehmender Individuen, für<br />

eine Reihe latenter Erkrankungen, für Originale schlechthin, aber auch für Originale, die der geltenden<br />

Ordnung mit Recht oder Unrecht nicht besonders angenehm sind. Diejenigen Originale, die ihren Platz in<br />

der geltenden Ordnung behaupten, zumal, wenn sie sich in der Herde hübsch einreihen (Verein, Stamm-<br />

tisch u. s. w.) sind in der Gesellschaft willkommen <strong>und</strong> werden nicht als Psychopathen angesehen.» Stras-<br />

ser identifizierte den so genannten «Psychopathen» mit dem «Haltlosen», der gr<strong>und</strong>sätzlich als Ges<strong>und</strong>er<br />

zu betrachten sei. 1332 Strasser wiederholte seine Kritik am Psychopathiekonzept anlässlich der Versamm-<br />

lung der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> von 1934. Es sei ein äusserst «gefährliches» <strong>und</strong> die Psychi-<br />

atrie «diskreditierendes» Unterfangen, aus Verlegenheit oder Unfähigkeit, eine schleichende Psychose zu<br />

erkennen, «mit der Hilfsdiagnose der Psychopathie ein Ventil zu schaffen». Denn nicht zuletzt würden, so<br />

der Sozialdemokrat Strasser, beim Diagnostizieren einer Psychopathie oft «klassenspezifische Gesichts-<br />

punkte bedenklich hineinspielen». 1333 Im Gegensatz zur Mehrheit seiner Kollegen sah Strasser in der Di-<br />

agnose «Psychopathie» ein flexibles Instrument, mit dem sich zwar gesellschaftliches Fehlverhalten patho-<br />

logisieren liess, das aber die wissenschaftliche Reputation der <strong>Psychiatrie</strong> kaum fördern würde. Der Auffassung<br />

Maiers hielt Strassen entgegen, dass Wissenschaft, Rechtsprechung <strong>und</strong> Politik klar auseinander<br />

zuhalten seien: «Direkt gegensätzlich zu Maier halte ich daran fest, dass der Arzt seine biologische Auffas-<br />

sung ohne jede Rücksicht auf die Fassung der gegenwärtigen Gesetze <strong>und</strong> ihre Anwendung durch die<br />

Gerichte zum Durchbruch zu bringen hat.» Strassers Plädoyer gipfelte schliesslich in der Formel: «Wissen-<br />

schaft ist nicht Politik». 1334<br />

Die Problematik der Abgrenzung von Begutachtungspraxis <strong>und</strong> Kriminalpolitik wurde kurz vor dem<br />

Zweiten Weltkrieg durch den Basler Psychiater Benno Dukor (1897–1980) nochmals aufgegriffen. Wie<br />

Maier sah Dukor einen gr<strong>und</strong>sätzlichen Widerspruch zwischen der biologischen <strong>und</strong> rechtlichen Definiti-<br />

on der Zurechnungsfähigkeit. So seien «Psychopathen» vom psychiatrischen Standpunkt aus sehr wohl als<br />

«minderwertig» <strong>und</strong> «abnorm» zu beurteilen, vom juristischen Standpunkt aus handle es sich dabei aber<br />

primär um ein moralisches Versagen, das zu bestrafen sei. Dieses Missverständnis zwischen psychiatri-<br />

scher <strong>und</strong> juristischer Auffassung führe in der Praxis oft zu einem Paradox, «wenn gerade diejenigen<br />

Rechtsbrecher, die nach dieser Maxime sogar strenger bestraft werden müssten, unter der Maske der Psy-<br />

chopathie als vermindert zurechnungsfähig <strong>und</strong> damit als weniger strafbar erklärt werden.» 1335 Dukor plä-<br />

dierte wie Wilmanns <strong>und</strong> Maier dafür, «Psychopathen» in der Regel als voll zurechnungsfähig zu bestrafen,<br />

respektive als «Gewohnheitsverbrecher» zu verwahren. Im Vergleich zum Direktor des Burghölzli machte<br />

Dukor allerdings einen entscheidenden Unterschied. Wenngleich die Psychiater das Recht <strong>und</strong> sogar die<br />

Pflicht hätten, Kriminalpolitik zu betreiben <strong>und</strong> Fragen der Zurechnungsfähigkeit zu diskutieren, so sei<br />

dies von der Sachverständigentätigkeit strikte zu trennen: «Wenn wir dagegen praktisch als Gutachter tätig<br />

1332 Strasser, 1927, 122f., 86.<br />

1333 SLB VCH 2574, Protokoll der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong>, 1934, 9.<br />

1334 Strasser, 1927, 94. Zu Strasser: Heinrich, 1986.<br />

1335 Dukor, 1938, 227.<br />

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