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Psychiatrie und Strafjustiz

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vermitteln. Ziel war es, durch Aufklärung <strong>und</strong> Belehrung die «natürlichen» Prinzipien bürgerlicher Lebens-<br />

führung in den Köpfen von Hausfrauen wie Luise W. festzusetzen. 1000<br />

Entscheidend für die Pathologisierung der Verstösse von Luise W. gegen solche Erwartungen war, dass<br />

die Psychiater die Einschätzung des Landjägers <strong>und</strong> ähnlich lautenden Zeugenaussagen unwidersprochen<br />

in ihr Gutachten übernahmen. So hiess es im entsprechenden Abschnitt der Anamnese: «Ihre Pflichten als<br />

Hausfrau hat sie in zunehmenden Masse vernachlässigt. Seit mehreren Jahren habe sie nichts mehr gewa-<br />

schen, noch genäht. Ermahnungen, Vorwürfe <strong>und</strong> Schläge, die sie von ihrem Mann deshalb erhielt, brach-<br />

ten die Frau nicht auf einen besseren Weg. Die Wohnung geriet in die hochgradigste Unordnung <strong>und</strong><br />

wurde voll Unrat <strong>und</strong> Ungeziefer aller Art, so dass die Mitarbeiter des Mannes [...] sich weigerten, ferner<br />

mit ihm zu arbeiten. Die Kinder habe sie total vernachlässigt, sie mangelhaft ernährt <strong>und</strong> ihnen die Kleider<br />

nicht mehr besorgt [...]. Die Sache wurde so arg, dass der Mann am 29. Juni 1908 die gemeinsame Woh-<br />

nung verliess, um nicht mehr dahin zurück zu kehren. Die Familie sollte in nächster Zeit aufgelöst <strong>und</strong><br />

die Kinder der Frau weggenommen werden.» 1001 Die Psychiater schlossen mit ihrer, teils in indirekter Re-<br />

de wiedergegebener Schilderung eng an die Beurteilung der Zeugen an. Nicht nur übernahmen sie Schlüsselwörter<br />

wie «Unrat <strong>und</strong> Ungeziefer», sondern reproduzierten auch die Sichtweise des Ehemannes, der<br />

seinen Auszug aus der gemeinsamen Wohnung als eine Folge der mangelhaften Haushaltung seiner Ehe-<br />

frau darstellte. Luise W. kam im Gutachten dagegen kaum zu Wort.<br />

Eine eigentliche Medikalisierung erfuhr das Verhalten von Luise W. indes erst im zweiten Teil des Gut-<br />

achtens: «Später, nach der Verheiratung, gesellte sich zu der angeborenen Reizbarkeit der Person eine ganz<br />

auffallend stark ausgeprägte Stumpfheit für ihre Haushaltungs- <strong>und</strong> Mutterpflichten, indem sie in hohem<br />

Masse den gesamten Haushalt <strong>und</strong> die Besorgung der Kinder vernachlässigte. Dazu trat eine Neigung zum<br />

Alkoholgenuss <strong>und</strong> eine für ihre ärmlichen Verhältnisse übermässige Vergeudung von Geld für geistige<br />

Getränke. Das Trinken trug seinerseits dazu bei, die Unordentlichkeit <strong>und</strong> das Elend des Haushalts zu<br />

vermehren <strong>und</strong> das mangelhafte Gefühl der Frau für ihre Frauen- <strong>und</strong> Mutterpflichten abzustumpfen».<br />

Die Sachverständigen belegten diese Verfehlungen schliesslich mit dem Begriff «Erscheinungen einer<br />

moralischen Degeneration». 1002 Stück für Stück überführte das psychiatrische Gutachten die vom Ehe-<br />

mann <strong>und</strong> den Bieler Behörden konstatierten Mängel in Haushaltsführung <strong>und</strong> Kinderbetreuung sowie<br />

das Trinkverhalten von Luise W. in ein Deutungsmuster, das solchen Verfehlungen an den normativen<br />

Geschlechterrollen psychopathologische Qualitäten gab. Die Vernachlässigung des von ihnen wie von den<br />

Zeugen vorausgesetzten «natürlichen Pflichtenkreis» als Hausfrau <strong>und</strong> Mutter führten die Sachverständi-<br />

gen schliesslich auf eine «ausgeprägte Stumpfheit» <strong>und</strong> «moralische Degeneration» zurück. Das Fallbeispiel<br />

von Luise W. verdeutlicht, wie mittels des Psychopathiekonzepts Abweichungen von den bürgerlichen<br />

Geschlechternormen pathologisiert werden konnten. Das Leitbild der bürgerlichen Hausfrau, wie es bei-<br />

spielsweise der Brockhaus von 1898 vertrat, wurde dadurch gleichzeitig reproduziert <strong>und</strong> stabilisiert. Worin<br />

sich der psychiatrische Diskurs an dieser Stelle von den Bemühungen bürgerlicher Fürsorgerinnen um<br />

Aufklärung <strong>und</strong> Erziehung unterschied, war seine Deutung des Fehlverhaltens von Luise W. als Ausdruck<br />

eines unveränderlichen «entarteten Charakters». 1003 Einer soziokulturellen Interpretation abweichenden<br />

(Geschlechter-) Verhaltens, die ebenfalls die Perspektive der betroffenen Delinquentin einbezogen hätte,<br />

wurde dadurch der Boden entzogen.<br />

1000 Ramsauer, 2000, 128f., 133-150. Zur Belehrung <strong>und</strong> Aufklärung von Hausfrauen ebenfalls: Mesmer, 1982.<br />

1001 StAB BB 15.4, Band 1856, Dossier 621, Psychiatrisches Gutachten über Luise W., 16. August 1908.<br />

1002 StAB BB 15.4, Band 1856, Dossier 621, Psychiatrisches Gutachten über Luise W., 16. August 1908.<br />

1003 Wie Ramsauer, 2000, 144, feststellt, lässt sich eine solche Tendenz zur Pathologisierung abweichenden Rollenverhaltens in<br />

den 1920er Jahren vereinzelt auch bei Fürsorgerinnen nachweisen.<br />

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