13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

lediglich in einem Teil der Fälle zur Anzeigenerstattung, respektive zur staatlichen Strafverfolgung führen.<br />

Auch innerhalb einmal angehobener Strafverfahren lassen sich verschiedene Selektionsstufen wie Vorun-<br />

tersuchung, Hauptverhandlung oder Strafvollzug feststellen. Das Durchlaufen dieser Stufen ist in jedem<br />

Einzelfall von komplexen Entscheidungsprozessen begleitet, bei denen den involvierten AkteurInnen<br />

unterschiedliche <strong>und</strong> ungleich verteilte Handlungsoptionen offen stehen. 114 Ebenfalls als solche Selekti-<br />

onsstufen innerhalb von Strafverfahren lässt sich der Beizug psychiatrischer Sachverständiger auffassen.<br />

Solchen Medikalisierungstendenzen gehen jeweils spezifische Konstellationen voraus. Gleichzeitig eröff-<br />

net die Inanspruchnahme des medizinischen Bezugssystems neue Optionen für die Weiterführung des<br />

Strafverfahrens.<br />

Im deutschsprachigen Raum lag der Schwerpunkt der historischen Kriminalitätsforschung lange auf der<br />

Frühen Neuzeit. Den Pionierarbeiten von Dirk Blasius zur Strafverfolgung im preussischen Vormärz sind<br />

bisher nur wenige Arbeiten zur Kriminalitätsgeschichte des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts gefolgt. Erste Ansät-<br />

ze zur Verdichtung von Forschungsanstrengungen lassen sich in letzter Zeit in den Bereichen der Ban-<br />

denkriminalität, der Jugendstrafrechtspflege, der Todesstrafe sowie der Polizeigeschichte feststellen, die<br />

teilweise auch für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sind. So hat Jürgen Martschukat jüngst<br />

daraufhin gewiesen, das die wachsende Kritik an der Todesstrafe im späten 18. <strong>und</strong> frühen 19. Jahrhun-<br />

dert zu einem guten Teil auf eine wachsende Sensibilisierung gegenüber zweifelhaften Geisteszuständen<br />

zurückzuführen war. 115 Umfassende Untersuchungen der Justizpraxis im Hinblick auf eine Medikalisie-<br />

rung kriminellen Verhaltens bestehen bislang allerdings auch seitens der historischen Kriminalitätsfor-<br />

schung nicht. Einen wichtigen Bezugspunkt für die vorliegende Untersuchung bildet hingegen die Arbeit<br />

von Regina Schulte über die Formen ländlicher Kriminalität im Bayern des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Schulte be-<br />

tont darin nicht nur die zentrale Rolle von Gerichtsakten für die historische Kriminalitätsforschung. In-<br />

dem sie die unterschiedlichen Deutungsmuster <strong>und</strong> Konfliktkonstellationen herausarbeitet, die im Laufe<br />

eines Strafverfahrens ins Spiel kommen können, vermag sie darüber hinaus exemplarisch jene Zuschrei-<br />

bungsprozesse aufzuzeigen, die schliesslich zur Kriminalisierung abweichenden Verhaltens führen. In<br />

diesem Zusammenhang geht die Untersuchung auch auf die Intervention psychiatrischer Sachverständiger<br />

in Strafverfahren ein. Psychiatrische «Deutungsversuche» lösen dabei, so Schulte, den Körper des Ange-<br />

schuldigten «aus allen sozialen Zusammenhängen». Aufgr<strong>und</strong> der Analyse von Gerichtsakten <strong>und</strong> in Anlehnung<br />

an das «Modell der zwei Kulturen» postuliert sie einen nicht aufzulösenden Gegensatz zwischen<br />

der Sicht des Psychiaters <strong>und</strong> der Dorfbevölkerung: «Die Kriminalitätsakte enthält damit zwei [...] sich<br />

gegenseitig ausschliessende Sichtweisen der Wirklichkeit. Die Version der Dörfler sagt ‹es war Rache› <strong>und</strong><br />

beschreibt so eine soziale Beziehung <strong>und</strong> ihre Geschichte – die Version des Experten lautet ‹Idiotie› <strong>und</strong><br />

beschreibt einen Krankenbef<strong>und</strong>.» 116 Wie im Laufe der vorliegenden Untersuchung zu zeigen ist, kann<br />

diese verallgemeinerte These nicht aufrechterhalten werden. Die Beziehungen zwischen Alltags- <strong>und</strong> Ex-<br />

pertenwissen sind gerade im Bereich der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> komplexer. Zu Recht weist Schulte aber<br />

darauf hin, dass es sich bei psychiatrischen Gutachten um «Deutungsversuche» handelt, die eine system-<br />

spezifische Perspektive auf abweichendes <strong>und</strong> kriminelles Verhalten repräsentieren. Diese Erkenntnis liegt<br />

auch dem oben skizzierten Modell der strukturellen Koppelung zugr<strong>und</strong>e. Der Versuch, die spezifische<br />

Logik dieser psychiatrischen Deutungsmuster <strong>und</strong> ihre Verwendung in der Justizpraxis herauszuarbeiten,<br />

nimmt deshalb in dieser Untersuchung einen breiten Raum ein.<br />

114 Vgl. Schwerhoff, 1999, 13.<br />

115 Vgl. Blasius, 1976; Blasius, 1978. Zur allgemeinen Einschätzung des Forschungsstands: Schwerhoff, 1999, 22, 217-222. Für<br />

neuere Studien sei auf die folgende Auswahl verwiesen: Nutz, 2001; Evans, 2001; Martschukat, 2000; Oberwittler, 2000; Berding/Klippel/Lottes,<br />

1999; Hommen, 1999; Evans, 1997; Gleixner, 1994..<br />

116 Schulte, 1989, 95f. Zum «Modell der zwei Kulturen»: Dülmen, 2000, 23f.<br />

32

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!