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Psychiatrie und Strafjustiz

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nen mit neuer Schärfe hervortreten liess. Dementsprechend erhob sich vor allem in den Jahren 1942 <strong>und</strong><br />

1943 ein Proteststurm gegen die (vermeintliche) Praxis der Justizbehörden, vor allem vermindert zurech-<br />

nungsfähige «Psychopathen» kurzerhand in psychiatrische Anstalten einzuweisen. Einen Höhepunkt fand<br />

diese Kritik schliesslich anlässlich der Versammlung der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> im Juni<br />

1944, als der Gesellschaftsvorstand die Diskussion nur mit Mühe in ruhigere Bahnen zu lenken vermoch-<br />

te. 1503 Waren sich die Psychiater einig, dass die Irrenanstalten von «kriminellen Elementen» so rasch wie<br />

möglich zu entlasten waren, so gingen ihre Meinung darüber auseinander, wenn es um die Formulierung<br />

von Strategien zur Lösung des Verwahrungsproblems ging. Die institutionellen Herausforderungen, mit<br />

denen sich die Disziplin konfrontiert sah, öffneten vielmehr unterschiedliche Handlungsoptionen, die im<br />

Wesentlichen an die bereits in der Vor- <strong>und</strong> Zwischenkriegszeit diskutierten Lösungsansätze anknüpften.<br />

Lösungsstrategien: Demedikalisierung...<br />

Die von den Psychiatern in den 1940er Jahren diskutierten Lösungsstrategien lassen sich im Wesentlichen<br />

zwei unterschiedlichen Tendenzen zuordnen. Dabei erhielten die bereits in der Zwischenkriegszeit erprob-<br />

ten Argumentationsmuster eine neue Aktualität. Denn sowohl die Vertreter einer teilweisen Demedikali-<br />

sierung des Massnahmenrechts, als auch die Befürworter einer forcierten Medikalisierung kriminellen<br />

Verhaltens konnten an frühere Argumentationsstränge anschliessen. Wie in den folgenden Abschnitten<br />

gezeigt wird, setzen sich im Laufe der 1940er Jahren innerhalb der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> jene Tendenzen<br />

weitgehend durch, die sich von einer teilweisen Demedikalisierung des Massnahmenvollzugs eine Lösung<br />

des Verwahrungsproblems erhofften. Weitgehend obsolet wurde dadurch auch die Frage der institutionel-<br />

len Ausdifferenzierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong>. Mit diesem Positionsbezug bekräftigten die Schwei-<br />

zer Psychiater ihre Kehrtwende in Bezug auf die von namhaften Exponenten der Disziplin seit den 1880er<br />

Jahren verfolgte Strategie einer weitgehenden Medikalisierung kriminellen Verhaltnes. Allerdings wäre es<br />

verfehlt, unter dem Stichwort der Demedikalisierung ein kohärentes Massnahmenpaket zu verstehen, das<br />

zielgerichtet in die Praxis umgesetzt worden wäre. Vielmehr fasst die analytische Kategorie der Demedika-<br />

lisierung ein Bündel funktionaler Lösungsansätze zusammen, die auf ein teilweises Zurückdrängen medi-<br />

zinischer Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte zugunsten anderer Instrumente sozialer Kontrolle ab-<br />

zielten. Demgegenüber versprachen sich Befürworter einer forcierten Medikalisierung von einem Ausbau<br />

des medizinisch-psychiatrischem Versorgungssystems Lösungen für das sich nach der Einführung des<br />

Strafgesetzbuchs mit neuer Dringlichkeit stellenden Verwahrungsproblem.<br />

Demedikalisierungstendenzen <strong>und</strong> -strategien wiesen unterschiedliche Stossrichtungen auf. Auf der Ebene<br />

des Massnahmenvollzugs setzte etwa Berner Vollzugsmodell an, das auf das Abschieben von zu verwah-<br />

renden StraftäterInnen aus psychiatrischen in nicht ärztlich geleitete Anstalten hinauslief. Bereits im Früh-<br />

jahr 1943 wies Maier darauf hin, dass es in der Kompetenz der kantonalen Verwaltungsbehörden liege,<br />

gegebenenfalls die Versetzung von DelinquentInnen aus psychiatrischen in nicht medizinische Anstalten<br />

anzuordnen. 1504 Maier bekannte sich damit zum Prinzip der viel diskutierten Berner Verordnung vom<br />

Dezember 1941. In seinem Referat vor der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> verwies Wyrsch ebenfalls<br />

auf die im Kanton Bern bewährte Möglichkeit, psychisch auffällige Straftäter in Verwahrungs-, Arbeits-<br />

<strong>und</strong> Trinkerheilanstalten statt in psychiatrische Institutionen einzuweisen, respektive der Schutzaufsicht zu<br />

1503 Vgl. Müller, 1982, 306-308. Der Vorstand der Gesellschaft erachtete es denn auch nicht für opportun, den Wortlaut der Diskussion<br />

ins gedruckte Protokoll aufzunehmen, wie dies ansonsten üblich war. Das Original des Versammlungsprotokolls vom<br />

Juni 1944 ist im Archiv der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> nicht auffindbar. Dagegen besteht ein Briefwechsel zwischen<br />

Max Müller <strong>und</strong> Otto Briner über die Abänderung des gedruckten Protokolls; vgl. ASGP 01.01 A/4, Schreiben Briner an Müller,<br />

5. Juli 1944.<br />

1504 Maier, 1943, 159.<br />

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