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Psychiatrie und Strafjustiz

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ExplorandInnen zu beurteilen. Wie die untersuchten Fallbeispiele zeigen, bedeutete dies in der Regel, dass<br />

die Sachverständigen eine Prognose über die zu erwartende Rückfallswahrscheinlichkeit von Delinquen-<br />

tInnen abgaben. Zum zentralen Kriterium wurde dabei die zu erwartende abschreckende <strong>und</strong> bessernde<br />

Wirkung der Strafe auf die betroffenen DelinquentInnen. Bei solchen Prognoseerstellungen operierten die<br />

psychiatrischen Sachverständigen weitgehend mit den gleichen Deutungsmustern, die bereits im Zusam-<br />

menhang mit der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit zum Tragen kamen. Zentral für das Konstatieren<br />

einer «Gemeingefährlichkeit» war demnach die Annahme einer unveränderlichen pathologischen Indivi-<br />

dualität der betroffenen DelinquentInnen, aus der sich sowohl die begangenen Delikte, als auch eine<br />

Prognose über künftig zu erwartende Straftaten ableiten liessen. «Haltlosigkeit» <strong>und</strong> «moralischer<br />

Schwachsinn» wurden dadurch zu Anzeichen einer potenziellen «Gefahr», der es durch das Ergreifen von<br />

Sicherungsmassregeln zuvorkommen galt.<br />

Die Berner Psychiater bedienten aber nicht nur die Justiz- <strong>und</strong> Verwaltungsbehörden mit Aussagen über<br />

die «Gemeingefährlichkeit» von DelinquentInnen, sie waren auch selbst aktiv an der beschriebenen Aus-<br />

weitung der Massnahmenpraxis auf vermindert Zurechnungsfähige beteiligt. In ihren Gutachten empfahlen<br />

sie wiederholt <strong>und</strong> schliesslich erfolgreich eine Ausweitung der Verwahrungsbestimmungen auf ver-<br />

mindert zurechnungsfähige StraftäterInnen. Diese Empfehlungen stiessen sowohl bei den Justiz-, als auch<br />

bei den Verwaltungsbehörden auf Resonanz. Die Praxisänderung von 1908 war somit das Ergebnis eines<br />

Zusammenspiels von Psychiatern, Gerichts- <strong>und</strong> Verwaltungsbehörden. Die beteiligten Akteure waren<br />

sich weitgehend einig über die Wünschbarkeit einer forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens<br />

durch die Schaffung neuer institutioneller Zugriffe auf «abnorme» DelinquentInnen. Demgegenüber traten<br />

die individuellen Freiheitsrechte <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>sätze des bürgerlichen Schulstrafrechts in den Hinter-<br />

gr<strong>und</strong>. Behörden <strong>und</strong> Psychiater versprachen sich von einer Ausdifferenzierung der institutionellen<br />

Zugriffe auf bestimmte Kategorien von StraftäterInnen einerseits eine effizientere Kriminalitätsbekämp-<br />

fung, andererseits aber auch Lösungen für konkrete Vollzugsprobleme, wie sie im Präzedenzfall von Eu-<br />

gen L. zum Ausdruck kamen. Die Entscheidungsprozesse, die zur Praxisänderung von 1908 führten, kön-<br />

nen gleich in mehrfacher Hinsicht als paradigmatisch für die im Rahmen dieser Untersuchung analysierten<br />

kriminalpolitischen Lernprozesse bezeichnet werden. Abgesehen davon, dass die Praxisänderung von<br />

1908 das Resultat einer eingespielten arbeitsteiligen Kooperation von Justiz, Verwaltung <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong><br />

darstellte, ist es bezeichnend, dass diese von konkreten Problemkonstellationen in der Justizpraxis ausging<br />

<strong>und</strong> keineswegs als intentionale Umsetzung der Postulate der Strafrechtsreformer anzusehen ist. Wie im<br />

Zusammenhang mit der Ausweitung der psychiatrischen Begutachtungspraxis lässt sich auch in diesem<br />

Fall die begründete Vermutung formulieren, dass sich das Leitbild einer regulativen Kriminalitätsbewälti-<br />

gung um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende weniger über Änderungen normativer Regelkomplexe, als über pragmati-<br />

sche Lernprozesse auf der Ebene der Justizpraxis durchgesetzt hat.<br />

Was die Auswirkungen der Ausweitung der Massnahmenpraxis auf die Berner <strong>Psychiatrie</strong> betrifft, sind<br />

zwei Gesichtspunkte hervorzuheben. Zum einen akzentuierte sich mit der Zunahme der verhängten<br />

Massnahmen die Verwahrungsfunktion der ohnehin überfüllten Irrenanstalten. Mit der Praxisänderung<br />

von 1908 wurden zudem auch «Grenzfälle» psychiatrisch verwahrt, die nur teilweise der traditionellen<br />

Klientel der Irrenanstalten entsprachen <strong>und</strong> in den Augen der <strong>Psychiatrie</strong>ärzte den Anstaltsbetrieb oft<br />

beträchtlich störten. Die «Überfüllung» der Irrenanstalt mit «störenden Elementen» wurde nach 1910 denn<br />

auch zu einem unter Anstaltspsychiatern viel diskutierten Problem. Die Psychiater sahen sich dabei mit<br />

den Auswirkungen einer forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens konfrontiert, zu deren eifrigs-<br />

ten Promotoren sie selbst gehört hatten. Der kriminalpolitische «Erfolg» wurde nun gleichsam zu einer<br />

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