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Psychiatrie und Strafjustiz

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(1851–1913) oder Gustav Aschaffenburg (1866–1944) verneinten rein endogene Ursachen des Verbre-<br />

chens <strong>und</strong> gingen stattdessen von einem komplexeren Verständnis von Anlagen <strong>und</strong> Umwelt aus. Baer<br />

bestritt 1893 die Existenz eines durch spezielle körperliche oder psychopathologische Merkmale gekenn-<br />

zeichneten Verbrechertypus. 263 Zugleich stellte er aber fest, dass viele Wiederholungstäter «Verbrecherna-<br />

turen» seien, die aufgr<strong>und</strong> einer «neuropathischen Disposition» eine geringere innere Widerstandskraft<br />

gegenüber äusseren Einflüssen aufweisen würden. Die Bekämpfung der Kriminalität hatte für Baer folg-<br />

lich in erster Linie bei der Verbesserung der sozialen Zustände anzusetzen. 264 Eine Synthese erfuhren<br />

solche multifaktorielle Ansätze durch den Kölner Psychiater Aschaffenburg. 265 Ähnlich wie Lombroso in<br />

seinem Spätwerk unterschied Aschaffenburg zwischen «sozialen Ursachen des Verbrechens» wie Jahres-<br />

zeiten, soziale Herkunft, Alkohol oder Prostitution <strong>und</strong> «individuellen Ursachen des Verbrechens» wie<br />

Alter, Geschlecht, körperliche <strong>und</strong> geistige Eigenschaften. Aschaffenburg lehnte die Existenz eines atavis-<br />

tischen <strong>und</strong> durch besondere körperliche Merkmale gezeichneten Verbrechertypus zwar als «verfehlt» ab,<br />

betonte aber ähnlich wie Féré in Frankreich eine enge Verbindung zwischen Verbrechen, Geisteskrankheit<br />

<strong>und</strong> degenerativer «Minderwertigkeit»: «Beides, Verbrechen <strong>und</strong> geistige Störung, sind zwei Pflanzen, die<br />

aus demselben Boden ihre Nahrung saugen, aus dem Boden körperlicher <strong>und</strong> geistiger Degeneration». 266<br />

Soziale Missstände, Trunksucht <strong>und</strong> Krankheit würden, so Aschaffenburg, eine «Generation von Men-<br />

schen» erzeugen, «die den Stürmen des Lebens nur unvollkommen gewachsen» seien. 267 Kriminelles Ver-<br />

halten erschien ihm als Folge einer durch solche Umwelteinflüsse erzeugte individuelle «Minderwertig-<br />

keit», die es den betreffenden Individuen verunmögliche, ihre Lebensführung im Einklang mit den Nor-<br />

men der bürgerlichen Gesellschaft zu gestalten. Soziale <strong>und</strong> biologische Einflussfaktoren waren damit<br />

letztlich nicht zu trennen.<br />

Weder in der deutschen noch in der französischen <strong>Psychiatrie</strong> vermochte sich der von den Kriminalanth-<br />

ropologen postulierte Typus des «geborenen Verbrechers» letztlich durchzusetzen. In beiden Ländern<br />

hielten die Psychiater an den im Anschluss an die Degenerationstheorie entstandenen Deutungsmuster<br />

kriminellen Verhaltens fest, wenngleich sie endogene <strong>und</strong> exogene Ursachen unterschiedlich gewichteten.<br />

Vor allem in Deutschland kam es zu einer partiellen Integration des neuen Verbrechertypus in das beste-<br />

hende Zustandsbild des «moralischen Schwachsinns». Diese Skepsis gegenüber der kriminalanthropologi-<br />

schen Herausforderung lag nicht zuletzt darin begründet, dass die französischen <strong>und</strong> deutschen Mediziner<br />

an der bestehenden Aufgabenteilung zwischen Juristen <strong>und</strong> Sachverständigen festzuhalten gedachten.<br />

Psychiater wie Magnan oder Krafft-Ebing waren vielmehr bestrebt, die Option einer pragmatischen, fall-<br />

weisen Medikalisierung kriminellen Verhaltens durch eine Ausweitung der juristisch-psychiatrischen Zu-<br />

sammenarbeit im Rahmen der bestehenden Justizpraxis offen zu halten. So war denn auch die in Deutsch-<br />

land nach 1890 festzustellende Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis zu einem guten Teil das<br />

Resultat der Stabilisierung der im Anschluss an die Degenerationstheorie entstandenen Deutungsmuster<br />

wie die «psychopathische Persönlichkeit». 268<br />

263 Koch, 1894, 39f.<br />

264 Wetzell, 2000, 50f.; Gadebusch Bondio, 1995, 140.<br />

265 Vgl. Wetzell, 2000, 63-68; Gadebusch Bondio, 1995, 199-217; Schindler, 1990, 159-163; Seifert, 1981.<br />

266 Aschaffenburg, 1906, 171. Zur Rezeption von Lombroso besonders: 144-154.<br />

267 Aschaffenburg, 1906, 174. Zur Metapher der Schifffahrt als Sinnbild der bürgerlichen Selbstführung: Hettling/Hoffmann,<br />

1997.<br />

268 Vgl. zur Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende: Wetzell, 2000, 79; Lengwiler, 2000, 235f.<br />

Die Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis in der Schweiz <strong>und</strong> im Kanton Bern wird ausführlich in Kapitel 6 diskutiert.<br />

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