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Psychiatrie und Strafjustiz

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zugunsten der medizinischen Sachverständigen einzuschränken. Dass der 1912 gef<strong>und</strong>ene Kompromiss<br />

zwischen Reformern <strong>und</strong> Reformkritikern schliesslich auch die Schweizer Irrenärzte zufrieden stellte, war<br />

zum einen darauf zurückzuführen, dass die Frage der Zurechnungsfähigkeit ihren Nimbus als kriminalpo-<br />

litische Gr<strong>und</strong>satzfrage eingebüsst hatte, zum andern aber die Folge eines Einstellungswandels innerhalb<br />

der psychiatrischen scientific community, bei dem der kriminalpolitische Radikalismus eines Forels definitiv<br />

dem Leitbild einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung Platz machte.<br />

4.3.2 Neue institutionelle Zugriffe: Sichernde Massnahmen gegen geistesgestörte StraftäterIn-<br />

nen<br />

Medizinischen Experten kam innerhalb des von Stooss konzipierten Systems sichernder Massnahmen eine<br />

zentrale Rolle zu. 567 Um das Postulat, dass sichernde Massnahmen weniger aufgr<strong>und</strong> von Tatbeständen als<br />

von Persönlichkeitsmerkmalen verhängt werden sollten, in die Praxis umsetzen zu können, benötigten die<br />

Justizbehörden die Mithilfe von Ärzten <strong>und</strong> Psychiatern, die sie mit einem medizinischen Strafwissen über<br />

die Individualität der StraftäterInnen versorgten. Für die mit Fragen des Massnahmenvollzugs betrauten<br />

Justizbeamten <strong>und</strong> Medizinern eröffnete die Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen somit ein neues<br />

Feld der interdisziplinären Zusammenarbeit. Der Vorentwurf von 1893 sah etwa den Beizug medizini-<br />

scher Experten bei Einweisungen in Trinkerheilsanstalten <strong>und</strong> Verwahrungsanstalten vor. 568 Stooss ging<br />

allerdings nicht so weit, sämtlichen sichernden Massnahmen einen medizinischen Charakter zu geben. So<br />

deklarierte er zwar Zwangsbehandlungen in Trinkerheilanstalten als Therapie, nicht jedoch Einweisungen<br />

in Verwahrungs- <strong>und</strong> Arbeitsanstalten. Wie bereits erwähnt, sah Stooss jedoch eine weitgehende Medikalisierung<br />

des Massnahmenvollzugs an geistesgestörten StraftäterInnen vor. Wie bei der Definition der Zu-<br />

rechnungsfähigkeit konnte er sich dabei auf Vorschläge der Schweizer Irrenärzte stützten. Im Zentrum<br />

der folgenden Ausführungen steht einerseits die Frage, inwiefern die Irrenärzte ihre Forderung nach ei-<br />

nem «Schutzrecht» der Gesellschaft vor «gemeingefährlichen Geisteskranken» im Laufe des Gesetzge-<br />

bungsprozesses in justiziable Formen zu bringen <strong>und</strong> damit die Anschlussfähigkeit ihrer Anliegen im<br />

Rechtssystem sicherzustellen vermochten. Andererseits ist die Frage zu diskutieren, inwiefern das von den<br />

Irrenärzten <strong>und</strong> den Strafrechtsreformern gemeinsam konzipierte Massnahmenrecht eine Erweiterung des<br />

Gegenstandsbereichs <strong>und</strong> des institutionellen Zugriffs der <strong>Psychiatrie</strong> bedeutete.<br />

Das folgende Unterkapitel geht zunächst auf die psychiatrischen Vorschläge im Bereich der sichernden<br />

Massnahmen ein, wobei der zeitliche Schwerpunkt auf den 1890er Jahren liegt. Anlass zu (juristischen)<br />

Kontroversen gaben dabei vor allem Massnahmen gegen vermindert zurechnungsfähige StraftäterInnen,<br />

die einer eigentlichen kriminalpolitischen Innovation gleichkamen. Auf diese Debatte geht der zweite Ab-<br />

schnitt ein. Schliesslich ist aufzuzeigen, dass ein weiteres aber nie verwirklichtes Gesetzgebungsprojekt der<br />

Schweizer Irrenärzte, die Bestrebungen für ein schweizerisches Irrengesetz, in einem engen Zusammen-<br />

hang zur Konzeption der sichernden Massnahmen im Strafrecht stand.<br />

Die Verwahrung <strong>und</strong> Versorgung Unzurechnungsfähiger<br />

Schweizer Psychiater wie Forel traten seit den 1880er Jahren dafür ein, dass geistesgestörte DelinquentIn-<br />

nen statt bestraft, in medizinischen Institutionen behandelt, versorgt oder verwahrt werden konnten. Geradezu<br />

prophetisch stellte Forel 1889 fest: «Die Zeit muss noch kommen, wo die Behandlung der Verbre-<br />

cher zum Teil eine Abteilung der <strong>Psychiatrie</strong>, zum Teil die Aufgabe einer sehr verfeinerten auf Stärkung<br />

<strong>und</strong> Verbesserung des Charakters, d.h. auf Hebung von Gehirnschwächen abzielenden, den Schutz der<br />

567 Vgl. Kp. 4.1.<br />

568 VE 1893, Artikel 24, 40.<br />

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