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Psychiatrie und Strafjustiz

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Gr<strong>und</strong>lagenreflexion <strong>und</strong> begriffliche Ausdifferenzierung: Hans Binder<br />

«Die Zusammenarbeit zwischen dem Juristen <strong>und</strong> dem Psychiater gestaltet sich dann am fruchtbarsten,<br />

wenn jeder nicht nur sein Aufgabengebiet sorgfältig von dem des anderen abgegrenzt hat, sondern wenn<br />

er sich auch über die Unterschiede seiner Denkmethoden <strong>und</strong> seiner Beurteilungsmassstäbe von denen<br />

des andern Berufs klar geworden ist.» 1563 Noch stärker als Wyrsch sah der Psychiater Hans Binder in der<br />

Herausarbeitung der Differenz von psychiatrischen <strong>und</strong> juristischen Begriffen eine Voraussetzung für eine<br />

erfolgreiche Zusammenarbeit beider Bezugssysteme im Gerichtsalltag. Binder amtierte seit 1942 als Direk-<br />

tor der Zürcher Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt Rheinau. Nach seinem Medizinstudium in Zürich hatte er sich in<br />

der psychiatrischen Klinik Heidelberg weitergebildet <strong>und</strong> war danach als Assistenzarzt im Burghölzli <strong>und</strong><br />

als Oberarzt in der Friedmatt tätig gewesen. 1932 habilitierte er sich in Basel. Wie Dukor <strong>und</strong> Wyrsch<br />

gehörte Binder bis in die 1960er Jahre zu den profiliertesten Gerichtsgutachtern in der Deutsch-<br />

schweiz. 1564<br />

Ähnlich wie Wyrsch betrachtete Binder die Zusammenarbeit zwischen Juristen <strong>und</strong> Psychiatern als «ihrem<br />

Wesen nach ziemlich problematisch». Da die Bestimmungen des neuen Strafgesetzbuchs aber ein weit<br />

intensiveres Zusammenwirken der beiden Disziplinen mit sich bringen würden als bisher, sei es unerläss-<br />

lich das gegenseitige Verständnis zu fördern. 1565 Ein Schritt in Richtung einer reibungslosen Zusammen-<br />

arbeit erhoffte sich Binder in erster Linie von einer Klärung der von beiden Disziplinen verwendeten<br />

Krankheitsbegriffe. Der Umstand, dass die Gesetze die Rechtsbegriffe der Urteilsfähigkeit <strong>und</strong> der Zu-<br />

rechnungsfähigkeit nur unter Rückgriff auf die medizinisch unscharfen Begriffe Geisteskrankheit <strong>und</strong><br />

Geistesschwäche definierten, hätte in der Praxis, so Binder, Missverständnisse zwischen Juristen <strong>und</strong> Psy-<br />

chiatern zur Folge. Binder kritisierte in diesem Zusammenhang die namentlich von Dukor geforderte<br />

Selbstbeschränkung der Sachverständigen auf rein medizinische Aussagen. Wie bereits Hans W. Maier<br />

befürchtete auch Binder, dass dadurch die psychiatrischen Experten um den «praktischen Erfolg» ihrer<br />

Gutachten gebracht würden. 1566 Die Klärung der verschiedenen Krankheitsbegriffe hatte für Binder aber<br />

nicht allein den Stellenwert einer wissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>lagenreflexion, sondern diente zugleich dazu,<br />

kriminalpolitische Positionen <strong>und</strong> Interessen abzusichern.<br />

Bestandteil von Binders kriminalpolitisch motivierter Gr<strong>und</strong>lagenreflexion war eine Auseinandersetzung<br />

mit dem forensisch-psychiatrischen Normalitätsdispositiv, wie sie mit dieser Gründlichkeit in der Schwei-<br />

zer <strong>Psychiatrie</strong> bisher noch nicht vorgenommen worden war. «Zurechnungsfähig ist, wer sich durch nor-<br />

male Motive in normaler Weise in seinem Handeln bestimmen lässt.» Durch das Aufgreifen dieser auf<br />

Franz von Liszt zurückgehende <strong>und</strong> auch in der Schweiz verbreitete Definition stellte sich Binder der<br />

problematischen Frage nach der Umschreibung des für die forensische <strong>Psychiatrie</strong> zentralen Normalitäts-<br />

begriffs. 1567 Wie die Untersuchung der gerichtspsychiatrischen Praxis im Kanton Bern zwischen 1890 <strong>und</strong><br />

1920 gezeigt hat, waren Begriffe wie «abnorme Persönlichkeit» oder «Abnormität» auch hierzulande seit<br />

längerem fester Bestandteil forensisch-psychiatrischer Diskurse. Konzise begriffliche Abgrenzungen, na-<br />

mentlich gegenüber einem traditionellen medizinischen Krankheitsbegriff, waren seitens der Schweizer<br />

Psychiater bislang kaum vorgenommen worden. Just diese Lücke beabsichtige Binder, mit seinen Gr<strong>und</strong>-<br />

lagenreflexionen zu schliessen. Bei seinen Überlegungen zum Normalitätsbegriff unterschied er zunächst<br />

zwischen einer «Durchschnittsnorm» <strong>und</strong> einer «Wertnorm». Unter der «Durchschnittsnorm» verstand<br />

1563 Binder, 1979b, 92.<br />

1564 Rocchia, 2001; Binder, 1979, 21-24.<br />

1565 Binder, 1943, 27-29.<br />

1566 Binder, 1952, 14-18.<br />

1567 Binder, 1979a, 13; Liszt, 1897; Hafter, 1946, 102f.<br />

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