13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Richard Vogel 963 Geisteskrankheit <strong>und</strong> «Schwachsinn» aus: «Vogel ist ein gut begabter <strong>und</strong> verständiger<br />

Mann. Er denkt über sich <strong>und</strong> andere klar <strong>und</strong> ist sich der möglichen Folgen seines Verbrechens bewusst.<br />

Wir finden ferner keine Sinnestäuschungen, keine Wahnvorstellungen, keine krankhaften Verstimmungen,<br />

keine Bewusstseinsstörungen bei ihm. Wir erkennen ihn weder heute noch in der Vergangenheit für geis-<br />

teskrank [...]. Vogel ist jedoch eigentümlich <strong>und</strong> sonderbar [...]. Er beweist damit eine Eigenart, wie wir sie<br />

bei so genannten Psychopathen beobachten.» 964 Die Psychiater betrachteten Männer wie Fritz R. oder<br />

Richard Vogel dennoch nicht als «normal»; sie sahen in ihrem «Denken, Fühlen <strong>und</strong> Handeln» vielmehr<br />

«Eigentümlichkeiten», wie sie bei der Mehrzahl der Männer <strong>und</strong> Frauen nicht vorkamen. In einem Gutachten<br />

der Waldau von 1898 hiess es bezeichnenderweise: «Unser Beklagter ist nicht wie andere Leute,<br />

sondern er hat einen ungewöhnlichen krankhaften Charakter, er ist entschieden psychopathisch.» 965 Ab-<br />

weichungen von einer imaginären Durchschnittsnorm, denen aber keinen Krankheitsstatus zukommen<br />

sollte, bewogen die Psychiater, von «Abnormitäten» <strong>und</strong> «Grenzzuständen» zu sprechen <strong>und</strong> ihren An-<br />

spruch auf deren Ausdeutung anzumelden.<br />

Mit dem Konzeptualisieren eines solchen Grenzbereichs zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit, in dem sich<br />

«Grenzer» wie Fritz R., die ihrer Umgebung Schwierigkeiten bereiteten, gegen Erwartungen <strong>und</strong> Normen<br />

verstiessen, jedoch nicht geisteskrank waren, psychiatrisch verorten liessen, modifizierten die Psychiater<br />

ihr Normalitätsdispositiv nachhaltig. Wie bereits in der Einleitung erwähnt worden ist, unterlag die Kon-<br />

zeption des Verhältnisses von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ei-<br />

nem nachhaltigen Wandel. Waren sich in einem traditionellen Verständnis Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

noch als klar geschiedenen Zustände gegenüber gestanden, so entwarf die Medizin in der zweiten Jahr-<br />

h<strong>und</strong>erthälfte im Anschluss an das physiologische Paradigma zunehmend ein normalistisches Kontinuum<br />

zwischen zwei Polen, dank dem sich einzelne Zustände gleichsam als «Normaleinheiten» (Jürgen Link) auf<br />

einer statistischen Normalverteilung konstituieren liessen. Den Massstab zur Beurteilung eines körperli-<br />

chen oder geistigen Zustands gab nun nicht mehr die qualitative Zuordnung zu den Polen Krankheit oder<br />

Ges<strong>und</strong>heit, sondern die quantitative Einordnung auf einer Normalitätsskala. 966 In der <strong>Psychiatrie</strong> setzten<br />

sich Ansätze zu einer Restrukturierung der Trias «Normalität»/«Abnormität»/«Krankheit» vor allem im<br />

Nachgang an die Degenerationstheorie durch, die das Augenmerk der Psychiater vermehrt auf geringfügi-<br />

gere <strong>und</strong> bisher nicht weiter beachtete psychische Auffälligkeiten lenkte. Nachhaltiges Ergebnis dieser<br />

konzeptuellen Umwälzung war die Dissoziation der Begriffe von «Krankheit» <strong>und</strong> «Abnormität». Nicht<br />

jede Abweichung von einer imaginären Durchschnittsnorm stellte nun gleich eine Krankheit dar. Folglich<br />

ergab sich ein breites Feld von «Übergangszuständen» zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit. Die Möglich-<br />

keit, Normabweichungen in einem solchen Feld zu verorten, stellte schliesslich einen zentralen Effekt der<br />

diskursiven Matrix dar, wie sie dem Psychopathiekonzept zugr<strong>und</strong>e lag. Allerdings war das psychiatrische<br />

Normalitätsdispositiv um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende insofern widersprüchlich, als es einerseits einen fliessen-<br />

den Übergang zwischen «Normalität» <strong>und</strong> «Abnormität» postulierte, andererseits aber auf einen durch<br />

einen qualitativen Sprung von den «Abnormitäten» abgegrenzten Krankheitsbegriff nicht verzichten woll-<br />

te. 967<br />

Nimmt man das Gutachten über Fritz R. zum Ausgangspunkt, so liessen sich mittels der diskursiven Mat-<br />

rix des Psychopathiekonzepts «Grenzfälle» zwischen zwei Grenzbereichen konstituieren. Einerseits grenz-<br />

963 Da der Name Vogels aus dem publizierten Gutachten bekannt ist, wird hier auf eine Anonymisierung verzichtet.<br />

964 Speyr/Brauchli, 1894, 283.<br />

965 StAB BB 15.4, Band 1647, Dossier 8862, Psychiatrisches Gutachten über Johann J., 8. Januar 1898.<br />

966 Link, 1999; Sohn/Mehrtens, 1999; Tanner/Sarasin, 1998, 20, 36-38; Canguilhem, 1966.<br />

967 Roelcke, 1999a, 197; Link, 1999, 85-94.<br />

225

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!