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Psychiatrie und Strafjustiz

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Gutachten finden. Häufig beschränkten sich die Sachverständigen auf kurze Zusammenfassungen, in eini-<br />

gen Fällen enthalten die Gutachten aber auch ausführlichere Gesprächsprotokolle. 827 Johann G. machte<br />

den Psychiatern in der Unterredung beispielsweise Angaben über den Ges<strong>und</strong>heitszustand seiner Angehö-<br />

rigen <strong>und</strong> die von ihm selbst durchgemachten Krankheiten. Ebenfalls berichtete er über seinen schuli-<br />

schen Werdegang, das Absolvieren der Rekrutenschule, sein Verhältnis zu den übrigen DorfbewohnerIn-<br />

nen <strong>und</strong> über seine «Streiche». In der Regel stellten die Sachverständigen konkrete Fragen an die Explo-<br />

randInnen <strong>und</strong> strukturierten dadurch den Verlauf der Gespräche. So wollten sie etwa von den meisten<br />

ExplorandInnen wissen, ob sie sich über den Zweck der Begutachtung <strong>und</strong> der Funktion einer Irrenanstalt<br />

im Klaren seien. Zusätzlich verlangten sie oft eine Einschätzung des Geisteszustands der Nebenkran-<br />

ken. Gleichzeitig bemühten sie sich aber auch, die ExplorandInnen frei reden zu lassen. Dies erlaubte<br />

diesen im Gegenzug, eigene Handlungskompetenzen wahrzunehmen <strong>und</strong> ihre persönliche Sicht darzule-<br />

gen oder im Hinblick auf das laufende Strafverfahren taktische Aussagen anzubringen. So fasste das Gut-<br />

achten die Erzählung von Johann G. über seine Tat wie folgt zusammen: «Weshalb er [Johann G.] seine<br />

Cigarre auf die Heubühne geworfen, darüber könne er sich absolut keine Rechenschaft geben, er habe<br />

keinerlei Gr<strong>und</strong>, aber auch keine Absicht gehabt, weder H. [den Wirt] noch andere in Schaden zu bringen,<br />

begreife überhaupt nicht, wie er es tun könnte.» 828 Der wegen Mordes angeklagte Christian Binggeli, des-<br />

sen Fall im folgenden Kapitel ausführlich dargestellt wird, benutzte seine Aufenthalte in Münsingen dazu,<br />

seine Tat als Folge eines momentanen «Jähzorns» <strong>und</strong> nicht eines Vorsatzes hinzustellen. 829 Elise L. nutzte<br />

dagegen die Gelegenheit, sich gegenüber den Psychiatern über die schlechte Behandlung durch ihren<br />

Mann auszusprechen. 830<br />

Indem die Sachverständigen in ihren Gutachten Aussagen festhielten, die in den Untersuchungsakten<br />

nicht enthalten waren, funktionierte der Informationstransfer zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> auch in<br />

der umgekehrten Richtung. So erzählte der Bruder eines Exploranden beim Besuch in der Waldau den<br />

Ärzten, dass er seinen Bruder bereits seit längerem verdächtigte, die eingeklagten anonymen Briefe ge-<br />

schrieben zu haben. Er habe diesen Verdacht indes dem Untersuchungsrichter aus Rücksicht auf den<br />

Bruder vorenthalten. Die Sachverständigen zögerten dann aber nicht, diese Aussage im Gutachten zu<br />

vermerken, so dass die Untersuchungsbehörden schliesslich davon Kenntnis erhielten. 831 Ein spezielles<br />

Beispiel stellt in dieser Hinsicht der Fall von Elisabeth Z. dar, die gegenüber den Sachverständigen ein<br />

umfassendes Geständnis über die begangene Brandstiftung ablegte, was diese sogleich dem zuständigen<br />

Untersuchungsrichter rapportierten. 832<br />

Die Berner Psychiater befragten die ExplorandInnen nicht nur über ihre Lebensverhältnisse <strong>und</strong> ihre<br />

Einschätzung der begangenen Tat, sondern stellten auch eigentliche Tests an. Geprüft wurde traditionel-<br />

lerweise das Schulwissen. Die Psychiater liessen dazu die ExplorandInnen einen kurzen Text lesen, einige<br />

Rechenoperationen ausführen <strong>und</strong> einige Zeilen schreiben. Zudem fragten sie gezielt nach Schulkenntnissen<br />

in den Bereichen Geographie (Frage nach den Amtsbezirken des Kantons, Frage nach Ortschaften auf<br />

einer stummen Karte), Geschichte (Frage nach Schlachten der Alten Eidgenossen) oder Staatsk<strong>und</strong>e (Fra-<br />

ge nach der Regierung der Schweiz). Mit Fragen nach dem Unterschied von Lüge <strong>und</strong> Irrtum oder nach<br />

dem Sinn von Begriffen wie Gerechtigkeit oder Dankbarkeit sollten die «sittlichen Begriffe» der Explo-<br />

827 Vgl. UPD KG 5990, Psychiatrisches Gutachten über Johann R., o.D. [September 1905].<br />

828 StAB BB 15.4, Band 1651, Dossier 8910, Psychiatrisches Gutachten über Johann G., 9. Dezember 1897.<br />

829 Glaser, 1901, 350.<br />

830 UPD KG 6357, Psychiatrisches Gutachten über Elise L., o.D. [1908].<br />

831 UPD KG 5990, Psychiatrisches Gutachten über Johann Friedrich R, o.D. [September 1905].<br />

832 StAB BB 15.4, Band 1769, Dossier 80, Schreiben Dr. Good an Richteramt Obersimmental, 29. August 1904.<br />

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