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Psychiatrie und Strafjustiz

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durch ihre eigentümliche psychische Organisation vielfach als wahre Unglücksmenschen erscheinen, in<br />

dem doppelten Sinne, dass sie sich selbst unglücklich fühlen <strong>und</strong> auch für ihre Umgebung unangenehm<br />

werden können [...]». 958<br />

Wie schon mehrfach erwähnt worden ist, eigneten sich die Berner Psychiater die neuen Deutungsmuster<br />

kriminellen Verhaltens seit den 1880er Jahre sukzessive an. Zum Ausdruck kam dieser Aneignungsprozess<br />

in einer anteilmässigen Zunahme der «konstitutionellen Störungen» innerhalb der Begutachtungspraxis.<br />

Eine besondere Bedeutung bekamen auch in der Berner Justizpraxis Zustandsbilder, die unter dem Begriff<br />

der «psychopathischen Persönlichkeit» zusammengefasst wurden. Die diskursive Matrix, die dem Psycho-<br />

pathiekonzept zugr<strong>und</strong>e lag, erlaubte den psychiatrischen Sachverständigen, das Delinquenzverhalten von<br />

«Unglücksmenschen», wie sie von Glaser genannt wurden, in (neue) medizinische Sinnzusammenhänge zu<br />

stellen. Aufgezeigt werden soll im Folgenden, wie sich die Berner <strong>Psychiatrie</strong>ärzte im Justizalltag der dis-<br />

kursiven Matrix des Psychopathiekonzepts, wie sie in Kapitel 3.1 herausgearbeitet worden ist, bedienten<br />

<strong>und</strong> wie sie dadurch ein Potenzial für eine forcierte Medikalisierung kriminellen Verhaltens schufen. 959<br />

Untersucht wird zunächst die fallweise Konzeptualisierung eines «Grenzgebiets» zwischen Krankheit <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit, auf dem sich ein erweiterter psychiatrischer Deutungsanspruch entfalten konnte. In einem<br />

zweiten Schritt wird der Frage nach der spezifischen Deutungsqualität des Psychopathiekonzepts» nach-<br />

gegangen, namentlich in Bezug auf die von Glaser hervorgehobenen «abnormen Gefühlsreaktionen».<br />

Einen Eckstein des Psychopathiekonzepts bildete schliesslich die Pathologisierung sozialer Devianz <strong>und</strong><br />

der damit verb<strong>und</strong>ene Begriff der «Norm». Deshalb werden in einem letzten Schritt jene sozialen <strong>und</strong><br />

geschlechtsspezifischen Normvorstellungen rekonstruiert, welche die Berner Sachverständigen ihren<br />

Grenzziehungen zwischen «Normalität» <strong>und</strong> «Abnormität» zugr<strong>und</strong>e legten.<br />

Die Konzeptualisierung von «Grenzfällen» zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Um einen ausgesprochenen «Grenzfall» handelte es sich bei Fritz R., einem 52jährigen Schnitzler, der mit<br />

seiner Familie in der Nähe von Meiringen lebte. Gegen Fritz R. wurde 1908 Anzeige eingereicht, weil er<br />

seinen Nachbarn <strong>und</strong> Untermieter mit einem Beil bedroht <strong>und</strong> Branddrohungen ausgestossen hatte. Das<br />

Strafverfahren, in dessen Verlauf Fritz R. psychiatrisch begutachtet wurde, war jedoch nur der Abschluss<br />

einer längeren Reihe von Auseinandersetzungen. Bereits einige Zeit nach seiner Heirat im Jahre 1901 hatte<br />

die Wohngemeinde gegen Fritz R. Klage eingereicht. Er misshandle seine Frau <strong>und</strong> Kinder, vernachlässige<br />

die Familie <strong>und</strong> fröne dem Nichtstun. Als sich die Familienverhältnisse nicht besserten, entzog ihm die<br />

Gemeinde die Verfügung über sein Vermögen. Im Frühjahr 1905 wurde er, nachdem bei ihm «Anwand-<br />

lungen von Wahnsinn» beobachtet worden waren, provisorisch in die Irrenanstalt Münsingen versetzt.<br />

Nach dem Gr<strong>und</strong> für sein Verhalten befragt, behauptet er gegenüber den Ärzten, seine Frau habe ihn<br />

betrogen <strong>und</strong> würde sich ihm sexuell entziehen. Mangels Krankheitsbef<strong>und</strong> entliessen ihn die Ärzte nach<br />

einem vierwöchigen Anstaltsaufenthalt wieder. Bereits im Herbst 1905 langten beim zuständigen Regie-<br />

rungsstatthalter jedoch neue Klagen über Fritz R. ein. Er ergebe sich dem «Müssiggang» <strong>und</strong> verletze seine<br />

«Gatten- <strong>und</strong> Vaterpflichten», so dass sein Vermögen zurückgehe <strong>und</strong> die Familie immer mehr in Not<br />

958 Glaser, 1887, 8. Glaser kam dabei erstaunlich nahe an die «klassische» Definition des «Psychopathen» durch Kurt Schneider<br />

aus dem Jahre 1923: «Psychopathische Persönlichkeiten sind solche abnorme Persönlichkeiten, die an ihrer Abnormität leiden<br />

oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet.»; Schneider, 1940, 3.<br />

959 Der Fokus auf die «Psychopathie» rechtfertigt sich einerseits durch die zentrale Stellung dieser psychiatrischen Kategorie für<br />

die forensischen Praxis seit der Jahrh<strong>und</strong>ertwende, andererseits dadurch, dass Fälle von «Psychopathie» in der historischen Forschung<br />

bislang kaum thematisiert worden sind. Dagegen ist das Krankheitsbild der «Hysterie», auch was die Berner <strong>Psychiatrie</strong><br />

betrifft, bereits wiederholt Gegenstand vertiefter historischer Analysen gewesen (Zuppiger, 1999; Wüthrich, 1995). Die Beschränkung<br />

auf die «Psychopathie» hat zur Folge, dass vor allem, aber – wie die Fallbeispiele zeigen – keineswegs ausschliesslich, kriminell<br />

gewordene Männer ins Zentrum der Untersuchung rücken. Entscheidend ist, dass das Geschlecht (Gender) dieser «Psychopathen»<br />

als einen integralen Bestandteil in die Analyse einbezogen wird.<br />

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