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Psychiatrie und Strafjustiz

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Kritik am «flexiblen Berner Modell»<br />

Das Berner Vollzugsmodell hatte für einen Teil der verwahrten StraftäterInnen zur Konsequenz, dass sie<br />

zwar aufgr<strong>und</strong> eines psychiatrischen Gutachtens für unzurechnungsfähig oder vermindert zurechnungsfä-<br />

hig bef<strong>und</strong>en wurden, gleichzeitig aber nicht in einen medizinischen Bezugsrahmen versetzt wurden. Den<br />

psychiatrischen Anstalten wurde im Gegenzug ermöglicht, DelinquentInnen, die keiner Behandlung zu-<br />

gänglich erschienen oder die den Anstaltsalltag zu stören drohten, an andere Vollzugsanstalten abzugeben.<br />

Die im Strafgesetzbuch nicht explizit genannten Kriterien der Heilbarkeit <strong>und</strong> Behandlungsfähigkeit be-<br />

gannen dadurch, den Massnahmenvollzug entscheidend zu prägen. Für DelinquentInnen, deren Verhalten<br />

auf medizinische Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte nicht ansprach, hatte diese medizinische Se-<br />

k<strong>und</strong>ärkodierung eine teilweise Demedikalisierung des Massnahmenvollzugs zur Folge.<br />

Gegen solche Demedikalisierungstendenzen regte sich sowohl seitens der betroffenen StraftäterInnen, als<br />

auch von juristischer Seite Widerstand. Dies verdeutlicht der Fall von Gottlieb K., der zwischen 1945 <strong>und</strong><br />

1950 die Berner Behörden <strong>und</strong> Juristen wiederholt beschäftigte. Gottlieb K. wurde im Mai 1945 vom<br />

Berner Geschworenengericht wegen Betrugs zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Gericht<br />

stellte den Strafvollzug jedoch wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit ein <strong>und</strong> wies Keller, den das<br />

psychiatrische Gutachten als «labilen, haltlosen, moralisch defekten Psychopathen» bezeichnet hatte, ge-<br />

mäss Artikel 14 des Strafgesetzbuchs zur Verwahrung in eine «Heil- oder Pflegeanstalt» ein. 1467 Gestützt<br />

auf die kantonale Verordnung vom Dezember 1941 versetzte die Polizeidirektion Gottlieb K. jedoch in<br />

die Arbeitsanstalt St. Johannsen. Gegen diese Einweisung erhob Keller in der Folge Einspruch <strong>und</strong> ver-<br />

langte die Verlegung in eine Pflegeanstalt. Im März 1946 wies der Regierungsrat die Einsprache mit der<br />

Begründung ab, aufgr<strong>und</strong> des psychiatrischen Gutachtens sei es nicht nötig, Gottlieb K. in eine Heil- <strong>und</strong><br />

Pflegeanstalt einzuweisen, <strong>und</strong> so «könne er in jeder Anstalt, die diesem Zweck [der Verwahrung] ent-<br />

spricht, untergebracht werden». 1468<br />

Hinter dem Anspruch von Gottlieb K., in eine medizinisch geleitete Anstalt versetzt zu werden, dürfte<br />

zweifellos die Hoffnung auf erleichterte Vollzugsbedingungen gestanden haben. Der Versuch von Gott-<br />

lieb K., als aktiv handelndes Subjekt Einfluss auf den Vollzug seiner Massnahme zu nehmen, zielte indes<br />

mit einer erstaunlichen Treffsicherheit auf einen auch in juristischer Hinsicht w<strong>und</strong>en Punkt der Berner<br />

Massnahmenpraxis ab. Dies wurde spätestens dann deutlich, als Gottlieb K. gegen den Entscheid der<br />

Berner Regierung an den B<strong>und</strong>esrat als zuständige Aufsichtsbehörde über den Strafvollzug rekurrierte. In<br />

seiner Stellungnahme hielt der B<strong>und</strong>esrat fest, dass zur Anwendung von Artikel 14 des Strafgesetzbuchs<br />

zwei Voraussetzungen erfüllt sein mussten: Eine «Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung»<br />

sowie die Notwendigkeit einer Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt. Sei bloss das Kriterium der<br />

Gefährlichkeit erfüllt, nicht aber dasjenige der Heil- oder Pflegebedürftigkeit, sei Artikel 14 nicht anwend-<br />

bar <strong>und</strong> folglich im Fall des vermindert zurechnungsfähigen Gottlieb K. die reguläre Strafe zu vollziehen.<br />

Der B<strong>und</strong>esrat betonte, dass die in Artikel 14 vorgesehene Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt «eine spezielle, sich<br />

insbesondere von den Strafanstalten unterscheidende Anstalt» sein müsse. Eine solche Anstalt diene,<br />

wenngleich sie keine medizinische Leitung zu haben brauche, einer speziellen Behandlung. Der B<strong>und</strong>esrat<br />

lud die Berner Regierung ein zu prüfen, ob Keller in «eine Pflegeanstalt im Sinne des Strafgesetzbuches»<br />

einzuweisen oder die Verwahrung aufzuheben sei. 1469<br />

1467 Wyrsch, 1953, 36.<br />

1468 BAR E 4110 (A) -/32, Band 21, Auszug aus dem Protokoll des Regierungsrats des Kantons Bern, 15. März 1946.<br />

1469 BAR E 1004. 1 (-), Band 474, B<strong>und</strong>esratsbeschluss, 21. Oktober 1946; ZStrR, 62, 1947, 58-62.<br />

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