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Psychiatrie und Strafjustiz

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Frage gestellt, wie sie die Auswirkungen der von ihr selbst vorangetriebenen Strategie zu einer forcierten<br />

Medikalisierung kriminellen Verhaltens institutionell bewältigen konnte. In der Schweiz akzentuierte sich<br />

diese Frage insofern, als sich mit der bevorstehenden Strafrechtsrevision eine weitere Intensivierung der<br />

forensisch-psychiatrischen Praxis abzeichnete. Im Rückblick können die forensisch-psychiatrischen De-<br />

batten der Zwischenkriegszeit denn auch als eine Erprobung jener Argumentations- <strong>und</strong> Handlungsmus-<br />

ter betrachtet werden, die nach Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs von 1942 die kriminalpolitischen Posi-<br />

tionen der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> prägen sollten.<br />

9.1 «Absonderung» oder «Verdünnung»: Die Debatte um die Errichtung spezialisierter Ver-<br />

wahrungsinstitutionen in der Schweiz<br />

Wie im zweiten Teil dieser Untersuchung am Beispiel des Kantons Bern gezeigt werden konnte, lässt sich<br />

seit den 1890er Jahren eine starke Ausweitung der psychiatrischen Begutachtungspraxis feststellen. Dieser<br />

Trend zu einer forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens verlief zwar regional unterschiedlich<br />

ausgeprägt, insgesamt handelte es sich jedoch um ein europaweites Phänomen. Parallel zur Intensivierung<br />

der Begutachtungspraxis nahm die Zahl der aus dem Bezugssystem der Justiz ausgegliederten <strong>und</strong> in psy-<br />

chiatrischen Institutionen verwahrten DelinquentInnen beträchtlich zu. Diese Ausdifferenzierung des<br />

institutionellen Zugriffs auf StraftäterInnen wurde zu einer zusätzlichen Belastung für die seit dem letzten<br />

Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ohnehin chronisch überfüllten Irrenanstalten. Probleme bereiteten den An-<br />

staltspsychiatern dabei vor allem die Verwahrung ausgesprochener «Grenzfälle». So bemerkte der Direktor<br />

der Nervenheilanstalt Chemnitz 1912 in einem Beitrag zur psychiatrischen Unterbringung geistesgestörter<br />

StraftäterInnen: «Es lässt sich aber nicht leugnen, dass neuerdings mit der weiteren Ausdehnung des Beg-<br />

riffs der Geisteskrankheit bei der Beurteilung in foro, mit der Erkenntnis der Bedeutung der Grenzzustände<br />

für den Strafvollzug <strong>und</strong> anderer [...] Momente sich in den Anstalten der Grossstädte ein Kran-<br />

kenmaterial anhäuft, das oft nur vorübergehend, manchmal überhaupt nicht schwer geistesgestört im kli-<br />

nischen Sinn ist <strong>und</strong> bei dem neben der eigentlichen Krankheit vorwiegend der degenerative, insoziale<br />

Charakter zutage tritt.» 1208 Den Anstaltspsychiatern stellte sich zwangsläufig die Frage, wo <strong>und</strong> wie diese<br />

wachsende Gruppe von «verbrecherischen Geisteskranken» untergebracht werden sollte. Sollten für sie<br />

spezielle Anstalten errichtet werden oder reichte es, die bestehenden Straf- <strong>und</strong> Irrenanstalten zu erwei-<br />

tern? Angesprochen wurde damit zugleich die Frage nach der Ausdifferenzierung spezialisierter foren-<br />

sisch-psychiatrischer Institutionen, die nicht nur der Verwahrung, sondern auch der Begutachtung <strong>und</strong> der<br />

wissenschaftlichen Erfassung «verbrecherischer Geisteskranker» dienten. Dieses Unterkapitel geht der<br />

Frage nach, inwiefern die in der Schweiz zwischen 1890 <strong>und</strong> 1940 im Zusammenhang mit dem Verwah-<br />

rungsproblem diskutierten Lösungsansätze Raum für eine institutionelle Ausdifferenzierung einer speziali-<br />

sierten forensischen <strong>Psychiatrie</strong> boten <strong>und</strong> wie solche allfällige Gestaltungsspielräume von den involvier-<br />

ten Akteuren genutzt wurden. Rechnung getragen wird dabei den im europäischen Umfeld diskutierten<br />

Lösungsansätzen sowie den zeitgenössischen Trends in Anstaltspsychiatrie <strong>und</strong> Strafvollzug.<br />

Modelle im europäischen Umfeld<br />

Im europäischen Kontext führte die Frage, wie die Irrenanstalten mit der wachsenden Zahl von «verbre-<br />

cherischen Geisteskranken» fertig werden konnten, noch vor der Jahrh<strong>und</strong>ertwende zur Herausbildung<br />

verschiedener Lösungsansätze. Einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg unternahm der deutsche Psychiater<br />

Gustav Aschaffenburg eine Studienreise durch Europa, um die in den verschiedenen Ländern vorhande-<br />

nen Anstalten zur Verwahrung geistesgestörter <strong>und</strong> «gemeingefährlicher» DelinquentInnen zu inspizieren.<br />

1208 Weber, 1912, 552.<br />

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