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Psychiatrie und Strafjustiz

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sprach mit ihnen über die verschiedenen «Streiche» Johanns sowie über dessen Trinkgewohnheiten. Eben-<br />

falls liess er sich dessen Verhalten vor der Tat schildern. In Übereinstimmung mit den Aussagen vor dem<br />

Untersuchungsrichter bezeichnete der Vater seinen Sohn gegenüber dem Psychiater als ein «guter Arbei-<br />

ter», der aber «kleinlich» <strong>und</strong> «leichtgläubig» gewesen sei. Zudem habe er eine «Neigung zum Zanken» <strong>und</strong><br />

habe «von den kleinen Geschwistern wenig ertragen». Der Psychiater stattete ebenfalls dem Dorflehrer<br />

einen Besuch ab <strong>und</strong> befragte ihn über die schulischen Leistungen <strong>und</strong> das Betragen seines ehemaligen<br />

Schülers. Unzufrieden zeigte sich der Lehrer vor allem über die «nicht immer passende» Erziehung durch<br />

die Eltern Johanns. Der Vater sei zwar ein «respektabler <strong>und</strong> fleissiger Arbeiter», die Mutter dagegen eine<br />

«Schwätzerin», die «schwach» gegen die Kinder sei <strong>und</strong> die Neigung habe, diese in Schutz zu nehmen <strong>und</strong><br />

deren Fehler zu verdecken. Schliesslich liess sich der Sachverständigen von den Wirtsleuten bestätigen,<br />

dass Johann G. vor der Tat verschiedene alkoholische Getränke zu sich genommen hatte. 845 Unmittelbarer<br />

als bei der Lektüre der Untersuchungsakten sahen sich die Sachverständigen bei solchen Erk<strong>und</strong>igungen<br />

mit der Lebenswelt der ExplorandInnen konfrontiert. Diese war in vielen der hier analysierten Fallbeispie-<br />

le eine ausgesprochen ländliche. Das hohe Gewicht, das die Sachverständigen solchen lebensweltlichen<br />

Aussagen beimassen, zeigt sich darin, dass diese oft direkt Eingang in die Schlussfolgerungen der Gutach-<br />

ten fanden. So bezeichnete das Gutachten Johann G. als einen «kleinlichen, leicht verletzbaren Charakter»<br />

<strong>und</strong> übernahm damit die Qualifikation Johanns durch dessen Vater. Der Status des Gutachtens als Exper-<br />

tentext führte in diesem Fall dazu, dass solche Alltagswahrnehmungen in Form wissenschaftlicher Aussa-<br />

gen stabilisiert wurden.<br />

Regelmässig veranlassten die Sachverständigen bei den Untersuchungsbehörden das Einholen von Infor-<br />

mationen. Im Fall von Jakob G. baten sie den Untersuchungsrichter, einige Zeugen zu den beobachteten<br />

«Anfällen» erneut zu vernehmen <strong>und</strong> legten ihrer Bitte detaillierte Fragen nach bestimmten Symptomen<br />

bei. 846 Auch im Fall von Elisabeth Z. beschafften die Sachverständigen über das zuständige Richteramt<br />

Informationen über die Familie der Explorandin, ihr Verhalten vor der Tat, ihre Haushaltsführung sowie<br />

über den genauen Zeitpunkt der Menstruation. 847 Die Sachverständigen holten ebenfalls auf dem Korres-<br />

pondenzweg Informationen bei Verwandten <strong>und</strong> Behörden im In- <strong>und</strong> Ausland ein. So gab die in Stutt-<br />

gart wohnende Mutter von Eugen L. Auskunft über die Erziehung <strong>und</strong> Jugendzeit ihres Sohns. Aus der<br />

württembergischen Irrenanstalt Weissenau, wo Eugen L. interniert gewesen war, liessen sich die Sachverständigen<br />

zudem dessen Krankengeschichte schicken. 848 Stärker als bei der Bearbeitung der Untersu-<br />

chungsakten, wo eine Selektion der Informationen erst im Nachhinein erfolgte, gaben Erk<strong>und</strong>igungen <strong>und</strong><br />

direkte Befragungen den Sachverständigen die Möglichkeit, präzise Informationen zu einzelnen Momen-<br />

ten zu erheben, welche ihren besonders relevant erschienen. Sie vermochten dabei an Informationen he-<br />

rankommen, die ihnen die Untersuchungsakten oder die ExplorandInnen selbst nicht geben konnten oder<br />

wollten.<br />

Fazit: Informationsbeschaffung, Machtverhältnisse <strong>und</strong> Alltagswissen<br />

Psychiatrische Begutachtungstätigkeit als Wissenschaftspraxis hiess in erster Linie Beschaffung <strong>und</strong> Verar-<br />

beitung von Informationen. Wie anhand der untersuchten Fallbeispiele gezeigt werden kann, bedienten<br />

sich die Berner Psychiater dabei im Wesentlichen dreier Informationsquellen: Untersuchungsakten, An-<br />

staltsbeobachtungen <strong>und</strong> Erk<strong>und</strong>igungen. Dementsprechend heterogen <strong>und</strong> offen gestaltete sich die Wis-<br />

sensbasis der psychiatrischen Gutachten. Wie im Anschluss an Michel Foucault festgestellt werden kann,<br />

845 StAB BB 15.4, Band 1651, Dossier 8910, Psychiatrisches Gutachten über Johann G., 9. Dezember 1897.<br />

846 StAB BB 15.4, Band 1898, Dossier 815, diverse Schreiben an den Untersuchungsrichter, Juni 1910.<br />

847 StAB BB 15.4, Band 1769, Dossier 80, Schreiben an das Richteramt Obersimmental, 11. Juli 1904.<br />

848 PZM KG 3317, Schreiben an die Irrenanstalt Münsingen, 19. Januar 1908.<br />

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