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Psychiatrie und Strafjustiz

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Störungen. 1895 wurde dieses Raster um die neue Gruppe der «konstitutionellen Störungen» ergänzt, wel-<br />

che zwischen die Gruppen der «angeborenen» <strong>und</strong> der «einfachen Störungen» eingeschoben wurde. 710 Die<br />

Durchsicht der Jahresberichte der folgenden Jahre <strong>und</strong> Jahrzehnte zeigt, dass die neue Kategorie just jene<br />

«Grenzzustände» umfasste, die für die forensisch-psychiatrische Praxis von zentraler Bedeutung waren. In<br />

der neuen Gruppe wurden vorwiegend Zustandsbilder wie «Psychopathie», «Hysterie», «moralischer<br />

Schwachsinn», «abnormer Charaktere» zusammengefasst, bei denen die Psychiater davon ausgingen, dass<br />

sie aufgr<strong>und</strong> einer konstitutionellen «erblichen Belastung» entstanden waren. Mit der Erweiterung ihres<br />

Klassifikationsrasters zu Beginn der 1890er Jahre trugen die Berner Irrenanstalten somit dem von Krafft-<br />

Ebing, Kraepelin oder Glaser vertretenen Krankheitsverständnis, das keine scharfe Grenze zwischen<br />

Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit mehr zog, auch in der administrativen Praxis Rechnung.<br />

5.4 Fazit: Die Wirkungsmacht des forensisch-psychiatrischen Dispositivs<br />

Die forensisch-psychiatrische Praxis im Kanton Bern wurde durch ein Netzwerk von Normen, institutio-<br />

nellen Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Deutungsmustern strukturiert. Diese Netzwerkelemente verknüpften<br />

sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu einem Dispositiv, das eine fallweise Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens erlaubte. Dieses forensisch-psychiatrische Dispositiv war indes keineswegs statis-<br />

tisch, sondern barg sowohl Potenziale für Konflikte wie auch für Lernprozesse. Die im Anschluss an die<br />

Kantonsverfassung von 1846 entstandene Strafgesetzgebung verankerte im Kanton Bern explizit das<br />

Rechtsinstitut der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> legte dadurch die Gr<strong>und</strong>lage für eine strukturelle Koppelung<br />

zwischen dem juristischen <strong>und</strong> medizinischen Bezugssystem. In der neuen Gesetzgebung festgeschrieben<br />

war die Pflicht der Justizbehörden, «zweifelhafte Geisteszustände» untersuchen zu lassen. Der Erfüllung<br />

dieses gesetzlichen Auftrags entgegen kam die Tatsache, dass mit der neu eröffneten Waldau erstmals ein<br />

institutioneller Rahmen für fachärztliche Begutachtungen zur Verfügung stand, der zugleich als Vollzug-<br />

sort für die im Strafgesetzbuch von 1866 vorgesehene Verwahrungsbestimmung dienen konnte. Die Wal-<br />

dau nahm denn auch bereits in den 1850er Jahren forensische Aufgaben wahr, wenn auch vorerst in be-<br />

scheidenem Ausmass. Eine neue Dynamik erfuhr das forensisch-psychiatrische Dispositiv im letzten Drit-<br />

tel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts durch das veränderte berufliche Selbstverständnis einer neuen Generation von<br />

Berner <strong>Psychiatrie</strong>ärzten. Psychiater wie Wilhelm von Speyr oder Georg Glaser kritisierten nicht nur die<br />

bestehende Aufgabenteilung zwischen Justiz <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>, sondern propagierten auch neue psychiatri-<br />

sche Deutungsmuster, die die bisherige Engführung von juristischem Schuld- <strong>und</strong> medizinischem Krank-<br />

heitsbegriff in Frage stellten. Für die weitere Entwicklung der forensisch-psychiatrischen Praxis war es<br />

entscheidend, dass diese Konfliktpotenziale durch die Flexibilität des bestehenden Dispositivs aufgefan-<br />

gen <strong>und</strong> in Lernprozesse transformiert werden konnten, die längerfristig auf eine arbeitsteilige Kriminali-<br />

tätsbewältigung durch <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> hinauslaufen sollten. Die kantonale Justizpraxis nahm<br />

dadurch gleichsam die Entwicklung auf B<strong>und</strong>esebene vorweg. Diese Lernprozesse wurden indes weniger<br />

durch Änderungen der rechtlichen Normen <strong>und</strong> der institutionellen Rahmenbedingungen, als durch ver-<br />

schiedene Koordinationsprozesse im Rahmen des bestehenden Dispositivs aufgefangen. Wie im nächsten<br />

Kapitel gezeigt werden soll, wurde die Bereitschaft der Berner Justizbehörden, auf neue psychiatrische<br />

Deutungsmuster einzugehen <strong>und</strong> auch ausgesprochene «Grenzfälle» zur psychiatrischen Begutachtung zu<br />

überweisen, wesentlich dadurch gefördert, dass das Berner Strafgesetzbuch die Möglichkeit einer vermin-<br />

derten Zurechnungsfähigkeit vorsah. Diese Norm reduzierte potenzielle Konflikte zwischen Justizbehör-<br />

den <strong>und</strong> Sachverständigen insofern, als sie das Diagnostizieren ausgesprochener «Grenzfälle» von vorn-<br />

herein einschloss <strong>und</strong> ein Korrelat für deren strafrechtliche Behandlung bereithielt. Zudem kam die Ver-<br />

710 Jb. Waldau, 1895, 18-20.<br />

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