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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die staatliche Repression zielte mehr <strong>und</strong> mehr auf eine Kriminalisierung abweichender Lebensweisen ab,<br />

die in den Augen der Behörden <strong>und</strong> der bürgerlichen Mehrheit eine potenzielle «Gefahr» für die «öffentli-<br />

che Sicherheit» darstellten. 1129<br />

Um der steigenden Zahl von armengenössigen Personen Herr zu werden <strong>und</strong> die betroffenen Gemeinden<br />

zu entlasten, richtete der Kanton 1847 auf dem Thorberg eine Zwangsarbeitsanstalt für arbeitsfähige Ar-<br />

me ein. 1130 Gemäss dem entsprechenden Dekrete sollten in diese eingewiesen werden: «alle diejenigen,<br />

welche bei notorischer Arbeitsfähigkeit in Folge eines leichtsinnigen, unordentlichen oder unsittlichen<br />

Lebens dem Publikum, den Gemeinden oder dem Staate durch Bettel oder unstetes Herumtreiben, durch<br />

Verlassung der Ihrigen lästig fallen, oder die durch ihr Verhalten eine Nichtachtung von Gesetz <strong>und</strong> Ord-<br />

nung an den Tag legen, dass von ihnen Gefahr für bestimmte einzelne Personen oder für die öffentliche<br />

Sicherheit überhaupt zu befürchten sind». 1131 Bei der Behandlung des Dekrets im Grossen Rat machte der<br />

zuständige Regierungsrat klar, dass es bei solchen Einweisungen nicht um die Bestrafung einzelner<br />

Verbrechen oder Vergehen ging, «sondern es handelt sich hier um das ganze Wesen, um die ganze Indivi-<br />

dualität einer Person, die, ohne ein bestimmtes Verbrechen begangen zu haben, mehr oder weniger der<br />

Gesellschaft gefährlich, lästig ist, an der üble Neigungen <strong>und</strong> Richtungen wo möglich geheilt, die mangel-<br />

hafte Erziehung ergänzt werden sollten». 1132 Das Hervorheben des Besserungs- <strong>und</strong> Erziehungszwecks<br />

macht deutlich, dass sich die Berner Regierung von der Armenpolizei in erster Linie eine prophylaktische<br />

Wirkung versprach. Deviantes Verhalten sollte nicht einfach bestraft, sondern an seiner Wurzel erfasst<br />

<strong>und</strong> durch bessernde Massnahmen korrigiert werden. Gleichzeitig sollte das «Publikum» vor «gefährlichen<br />

Personen» geschützt werden. Dass Bettel <strong>und</strong> Landstreicherei Vorstufen zu Vergehen <strong>und</strong> Verbrechen<br />

darstellten, war im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert ein Gemeinplatz, der auch in den Debatten um die Armenpolizeige-<br />

setzgebung im Kanton Bern regelmässig auftauchte. 1133 Der Kampf gegen die Landstreicherei geriet damit<br />

zur präventiven Staatsintervention, die ihre Rechtfertigung in einer Gefährdung der Gesellschaft durch<br />

potenzielle Rechtsbrecher fand. So meinte der zuständige Regierungsrat bei der ersten Revision des Ar-<br />

menpolizeigesetzes: «Nicht deswegen, weil er ein Verbrechen begangen, weil er gestohlen hat, bestrafen<br />

Sie ihn [den Landstreicher], sondern weil er möglicher Weise ein Verbrechen begehen könnte, weil man<br />

bei ihm eine gemeingefährliche Gesinnung voraussetzt <strong>und</strong> allerdings voraussetzen muss.» 1134<br />

Die Massnahmen gegen Bettel <strong>und</strong> Landstreicherei, wie sie das Armenpolizeirecht vorsah, orientierten<br />

sich weniger an effektiv begangenen Delikten als an der vermuteten «gemeingefährlichen Gesinnung»<br />

einer Person. Der Begriff der «Gemeingefährlichkeit» blieb dabei bewusst vage. Teils wurde er direkt mit<br />

der Erwartung künftiger Delikte in Verbindung gebracht, teils war er an die «Individualität» oder die «Ge-<br />

sinnung» einer Person geknüpft. In Bezug auf den Vollzug armenpolizeilicher Massnahmen traten Besse-<br />

rungs- <strong>und</strong> Sicherungszwecke <strong>und</strong> damit die Kriminalitätsprophylaxe in den Vordergr<strong>und</strong>. Das Unterord-<br />

nen des Schuldmoments unter andere Rechtszwecke machen die Parallelen zu der später von den Strafrechtsreformern<br />

geforderte Umgestaltung des Strafrechts in ein Massnahmenrecht offensichtlich. Straf-<br />

rechtsreformer wie Carl Stooss vermochten denn auch bei der Konzeption einer regulativen Kriminalpoli-<br />

tik direkt an die irren- <strong>und</strong> armenpolizeiliche Vorläuferdekrete anzuknüpfen. 1135<br />

1129 Ludi, 1999, 413-420; Meier/Wolfensberger, 1998, 431-434.<br />

1130 Vgl. Grisard, 1999.<br />

1131 GDV, 1848, 106-112, Artikel 4.<br />

1132 TBGR, 1848, 37, 4. Auszugsweise zitiert: Ludi, 1999, 417.<br />

1133 TBGR, 1848, 86, 7f.<br />

1134 TBGR, 1857, 510.<br />

1135 Vgl. Zürcher, 1892, 539; VE 1893, 35f.; Stooss, 1896, 285; Expertenkommission, 1893 I, 173; Wüst, 1905, 58-67.<br />

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