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Psychiatrie und Strafjustiz

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abzuarbeiten, die letztlich Rückkoppelungseffekte der von der Disziplin seit den 1880er Jahren verfolgten<br />

Kriminalpolitik waren. Nach der Einführung des Strafgesetzbuchs wurden die Schweizer Psychiater ge-<br />

wissermassen Opfer ihres eigenen kriminalpolitischen Erfolgs. Obwohl die Einschätzungen der neuen<br />

Herausforderungen durch die einzelnen Anstaltsdirektoren teilweise divergierten, war sich die Disziplin<br />

gegen aussen schnell einig, dass akuter Handlungsbedarf bestand <strong>und</strong> rasche Problemlösungen gefragt<br />

waren. Dabei standen sich zwei gr<strong>und</strong>sätzliche Strategien gegenüber. Die Mehrheit der Schweizer Psychia-<br />

ter glaubte, der anstehenden Probleme mittels verschiedener Demedikalisierungsstrategien Herr werden<br />

zu können. Dazu gehörte insbesondere das im Kanton Bern erprobte Vollzugsmodell, das eine Entlastung<br />

der psychiatrischen Anstalten von DelinquentInnen erlaubte, die aufgr<strong>und</strong> Artikel 14 des Strafgesetzbuchs<br />

in einer «Heil- oder Pflegeanstalt» verwahrt werden sollten. In Richtung einer teilweisen Demedikalisie-<br />

rung des Massnahenvollzugs wiesen aber auch Vorschläge für den Bau von Annexen an Strafanstalten<br />

oder die Forderung nach einer rigideren Exkulpationspraxis. Abgesehen von der Frage der ambulanten<br />

Behandlung, fanden alternative Strategien, die auf eine forcierte Medikalisierung des Straf- <strong>und</strong> Massnah-<br />

menvollzugs durch die Errichtung spezieller ärztlich geleiteter Verwahrungsanstalten hinausliefen, inner-<br />

halb der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> keine Mehrheit. Vom Tisch waren damit zugleich die an sich vorhandenen<br />

Optionen für eine institutionelle Ausdifferenzierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> in Form spezieller foren-<br />

sisch-psychiatrischer Zentren, die sowohl Begutachtungs- <strong>und</strong> Vollzugsaufgaben, als auch Funktionen im<br />

Bereich der Forschung <strong>und</strong> der Lehre wahrgenommen hätten. Das Optieren der psychiatrischen scientific<br />

community für eine flexible <strong>und</strong> weitgehend kostenneutrale Demedikalisierungsstrategie hatte somit gleich-<br />

zeitig zur Folge, dass forensisch-psychiatrische Aufgaben in der Schweiz nach wie vor in die reguläre An-<br />

staltspsychiatrie integriert blieben.<br />

Mit der Absage an eine forcierte Medikalisierung kriminellen Verhaltens verabschiedeten sich die Schwei-<br />

zer Psychiater in den 1940er Jahren definitiv vom kriminalpolitischen Radikalismus ihrer Vorgänger. Hat-<br />

ten sich Psychiater wie Auguste Forel oder Eugen Bleuler von der Integration psychiatrischer Behand-<br />

lungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte ins Strafrecht Impulse für kriminalpolitische Lernprozesse versprochen,<br />

so ging es führenden Psychiatern wie Hans W. Maier oder Jakob Wyrsch in den 1940er Jahren in erster<br />

Linie darum, die Belastung der psychiatrischen Anstalten durch missliebige Begutachtungs- <strong>und</strong> Verwah-<br />

rungsaufgaben im Bereich des Strafrechts zu minimieren. Diese Ernüchterung über die Möglichkeiten der<br />

<strong>Psychiatrie</strong>, zur gesellschaftlichen Bewältigung kriminellen Verhaltens beizutragen, hatte sich freilich bereits<br />

in der Zwischenkriegszeit abgezeichnet. Sie war nicht zuletzt eine Folge der therapeutischen Erfolge,<br />

die die <strong>Psychiatrie</strong> mit der Entwicklung neuer somatischer <strong>und</strong> psychotherapeutischer Therapieverfahren<br />

ausweisen konnte. Damit verb<strong>und</strong>en war eine zunehmende Umstrukturierung des psychiatrischen An-<br />

staltsbetriebs in Richtung therapeutischer Milieus, die sich nicht mehr in blossen Verwahrungsfunktionen<br />

erschöpften. Als «PsychopathInnen» stigmatisierte DelinquentInnen, denen die Psychiater eine günstige<br />

Beeinflussbarkeit absprachen, gerieten dadurch zwangsläufig zu «Fremdkörpern», die einen rationellen<br />

Anstaltsbetrieb störten. Der forensisch-psychiatrische Tätigkeitsbereich, der der Disziplin im letzten Drit-<br />

tel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu einer wachsenden Annerkennung seitens der Justiz <strong>und</strong> des Staates verholfen<br />

hatte, geriet ob diesem Wandel mehr <strong>und</strong> mehr ins Hintertreffen. So wurde zwar die Frage der Unterbrin-<br />

gung «abnormer» DelinquentInnen von der scientific community wiederholt diskutiert, doch gelang es der<br />

Disziplin nicht, nachhaltige Strategien zu entwickeln. Die Diskussionen um das Verwahrungsproblem in<br />

den 1940er Jahren machen denn auch deutlich, dass das sukzessive Abrücken der Psychiater von dem in<br />

den 1890er Jahren skizzierten disciplinary project einer weitgehenden Medikalisierung kriminellen Verhaltens<br />

letztlich zu einem guten Teil Resultat der nach wie vor ungelöste Frage nach der Unterbringung «abnormer»<br />

StraftäterInnen war. Im Gegensatz zur kriminalpolitischen Gr<strong>und</strong>satzdebatte der 1890er Jahren ver-<br />

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