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Psychiatrie und Strafjustiz

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dumskomitee, das sogleich mit dem Sammeln von Unterschriften begann. Bis im März 1938 kamen über<br />

72’000 Unterschriften zusammen, davon stammten über 60’000 aus der Romandie. Der B<strong>und</strong>esrat setzte<br />

daraufhin das Datum der Abstimmung über das Strafgesetzbuch auf den 3. Juli 1938 fest. 1408<br />

Die Initiative der Ligue vaudoise stiess vor allem bei Waadtländer Radikalen <strong>und</strong> Liberalen auf breite Unter-<br />

stützung. 1409 Die Waadt entwickelte sich in der Folge rasch zum Brennpunkt des Widerstands gegen das<br />

Strafgesetzbuch. Diese Oppositionsbewegung stand ganz im Zeichen der starken föderalistischen Strö-<br />

mungen der Zwischenkriegszeit. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatten Westschweizer Intellektuelle<br />

pointierter als früher gegen die angebliche Dominanz der culture gérmanique polemisiert <strong>und</strong> in der Rückbe-<br />

sinnung auf eigene kulturelle Traditionen ein probates Mittel gesehen, ihre regionale Identität zu beto-<br />

nen. 1410 Unter dem Eindruck der Spannungen zwischen den Sprachgruppen im Krieg erhielten diese parti-<br />

kularistischen Tendenzen nach 1918 zusätzlich Auftrieb. Die Waadtländer Liberalen <strong>und</strong> Radikalen be-<br />

gannen sich zusehends vom B<strong>und</strong>esstaat von 1874 zu distanzieren. So verwarf das liberale Parteipro-<br />

gramm von 1931 nicht nur die Einführung einer direkten B<strong>und</strong>essteuer, sondern auch die Strafrechtsein-<br />

heit. Unter dem Banner der Verteidigung der kantonalen Souveränität führten Radikale <strong>und</strong> Liberale aus<br />

der Waadt in der Zwischenkriegszeit einen erbitterten Kampf gegen alles, was in ihren Augen nach einer<br />

Zentralisierung aussah. Die Waadtländer Radikalen brachen zwischen 1918 <strong>und</strong> 1926 sogar mit der<br />

schweizerischen Mutterpartei. 1411 Verstärkt wurde dieser politische Partikularismus durch die Begeisterung<br />

führender Westschweizer Intellektueller für korporatistisches Gedankengut. 1412 In dieser Konstellation<br />

erschien die anstehende Vereinheitlichung des Strafgesetzbuchs als ideale Gelegenheit, die kantonale Sou-<br />

veränität hochzuhalten <strong>und</strong> zur Verteidigung der kulturellen Eigenart aufzurufen. Die Kritik an der<br />

Rechtseinheit wurde in der Waadt insofern noch verstärkt, als der Kanton bereits 1931 ein neues kantona-<br />

les Strafrecht erlassen hatte, dass sich nur zu gut gegen das schweizerische Strafgesetzbuch ausspielen<br />

liess.<br />

Die Gegner der Strafrechtseinheit aus der Westschweiz fanden in den Konservativen der Innerschweizer<br />

Kantone <strong>und</strong> der Kantone Freiburg <strong>und</strong> Wallis Koalitionspartner. Dies war angesichts der prononciert<br />

föderalistischen Rhetorik nahe liegend, machte doch das Bekenntnis zu einem weitgehenden Partikularis-<br />

mus seit der Gründung des B<strong>und</strong>esstaats einen zentralen Bestandteil der politischen Kultur der Katho-<br />

lisch-Konservativen aus. Die Forderung nach einer föderalistischen Staatsordnung bot der katholischen<br />

Minderheit im B<strong>und</strong>esstaat Gelegenheit, die befürchtete Majorisierung durch die liberale Mehrheit abzu-<br />

wehren. Zugleich verband sich damit ein ganzes Bündel antimodernistischer Leitbilder. 1413 In der Zwi-<br />

schenkriegszeit vertraten viele katholische Intellektuelle <strong>und</strong> Politiker einen so genannten «integralen Fö-<br />

deralismus». 1414 Obwohl diese radikale Position in den Reihen der Konservativen nicht unbestritten blieb,<br />

war das Bekenntnis zu einem wie auch immer gearteten Föderalismus fester Bestandteil des katholisch-<br />

konservativen Gesellschaftsverständnisses. 1415 Erst im Zeichen der «Geistigen Landesverteidigung» sollte<br />

1408 Bütikofer, 1996, 296f.<br />

1409 Die Ligue vaudoise war 1933 von der Intellektuellengruppe Ordre et Tradition als Komitee gegen das Finanzprogramm des B<strong>und</strong>es,<br />

das u.a. eine Weinsteuer vorsah, gegründet worden. Bis zur Abstimmung über das Strafgesetzbuch bestand zwischen der<br />

Ligue <strong>und</strong> den bürgerlichen Parteien keine enge Zusammenarbeit; vgl. Bütikofer; 1996, 203.<br />

1410 Vgl. Clavien, 1993; Jost, 1992; Kreis, 1987.<br />

1411 Vgl. Bütikofer, 1996, 19-28; Brassel-Moser, 1994, 195; Möckli, 1973, 105-108; Schild, 1971, 19-49.<br />

1412 Nebst Ordre et Tradition etwa auch die Schweizer Gruppe um die Zeitschrift Esprit.<br />

1413 Vgl. Altermatt, 1989, 59.<br />

1414 So etwa der spätere B<strong>und</strong>esrat Philipp Etter oder der Historiker Emil Franz Josef Müller, der 1938 in einem viel beachteten<br />

Buch aus Philipp Anton von Segesser einen Vorreiter einer föderalistischen <strong>und</strong> korporatistischen Staatsordnung machte. Der<br />

Vordenker des antiliberalen Denkens in der Schweiz, Gonzague der Reynold, beteiligte sich selbst aktiv im Abstimmungskampf<br />

um das StGB; vgl. Mattioli, 1994, 247.<br />

1415 Rölli-Alkemper, 1993, 229-233; Schild, 1970, 52-59.<br />

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