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Psychiatrie und Strafjustiz

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Wie in der Einleitung erwähnt, ist die Entstehung der modernen Kriminologie im letzten Drittel des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts wiederholt Gegenstand historischer Untersuchungen gewesen. Im Vordergr<strong>und</strong> standen<br />

dabei die Entstehung <strong>und</strong> Entwicklung der modernen Kriminologie, respektive die interdiskursive Veran-<br />

kerung kriminologischer <strong>und</strong> kriminalpsychiatrischer Konzepte. Ein Interpretationsstrang der bisherigen<br />

Forschung bestand darin, die Ausdifferenzierung einer «Wissenschaft des Verbrechens» als Symptom einer<br />

krisenhaften Verunsicherung der bürgerlichen Gesellschaft anzusehen. 226 Weniger Beachtung gef<strong>und</strong>en<br />

haben dagegen die Implikationen der analysierten Kriminalitätsdiskurse für die Zusammenarbeit der bei-<br />

den primär beteiligten Disziplinen, die Justiz <strong>und</strong> die <strong>Psychiatrie</strong>. Dies hatte zur Folge, dass die Bedeutung<br />

der im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstehenden kriminologischen Konzepte für die zeitgenössi-<br />

sche Justizpraxis in der bisherigen Forschung tendenziell unterbelichtet geblieben ist. Wenn das folgende<br />

Kapitel spezialdiskursive Aspekte stärker ins Zentrum stellt, geschieht dies mit der Absicht, die (potenziel-<br />

len) Auswirkungen der strafrechtlichen Lernprozesse zwischen 1880 <strong>und</strong> 1910 auf das forensisch-<br />

psychiatrische Praxisfeld zu skizzieren.<br />

Dies soll im Folgenden auf zwei Ebenen geschehen. Kapitel 3.1 zeichnet die Entstehung, Stabilisierung <strong>und</strong><br />

Ausdifferenzierung neuer psychiatrischer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens in der zweiten Jahrh<strong>und</strong>erthälfte<br />

nach. Ausgangspunkt bildet die Entwicklung der Degenerationstheorie durch die französische <strong>Psychiatrie</strong>.<br />

Einen wichtigen, wenngleich schwer einzuschätzenden Stimulus erfuhr die forensisch-psychiatrische The-<br />

oriebildung in den 1870er <strong>und</strong> 1880er Jahren durch die italienischen Kriminalanthropologen. Die Integra-<br />

tion der kriminalanthropologischen Theorien in das Degenerationskonzept mündete um die Jahrh<strong>und</strong>ert-<br />

wende schliesslich in eine Stabilisierung derjenigen Deutungsmuster kriminellen Verhaltens, die, wie das<br />

Psychopathiekonzept, weit ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein die forensisch-psychiatrische Praxis bestimmen<br />

sollten. Kapitel 3.2 verfolgt die zu dieser Entwicklung parallel verlaufenden konzeptuellen Veränderungen<br />

im juristischen Diskurs. In den 1880er Jahren stellten die Kriminalanthropologen <strong>und</strong> international beach-<br />

tete Strafrechtsreformer wie Franz von Liszt die F<strong>und</strong>amente des Schuldstrafrechts in Frage <strong>und</strong> entwar-<br />

fen ein neues Strafparadigma, das sich nicht mehr am Verschulden, sondern an der «Gefährlichkeit» der Täte-<br />

rInnen orientierte <strong>und</strong> die Einführung eines Systems sichernder Massnahmen propagierte. Die Strafrechts-<br />

reformer sahen dabei in einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens eine tragfähige kriminalpolitische<br />

Option, um der konstatierten Ineffizienz des geltenden Schuldstrafrechts entgegenzuwirken. Eng damit<br />

verb<strong>und</strong>en war das Postulieren neuer Modelle der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen <strong>Strafjustiz</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>, die die herkömmliche Aufgabenteilung zwischen den beiden Disziplinen in Frage stellten.<br />

3.1 Entstehung, Stabilisierung <strong>und</strong> Ausdifferenzierung neuer Deutungsmuster kriminellen<br />

Verhaltens: Von der Degenerationstheorie zur «psychopathischen Persönlichkeit»<br />

Wie in Kapitel 2 gezeigt worden ist, hatte die <strong>Psychiatrie</strong> mit den Spezialmanien erstmals über ein Bündel<br />

spezifischer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens verfügt. Die sukzessive Aufgabe des Monomanie-<br />

konzepts ab den 1850er Jahren bedeutete jedoch nicht, dass Zustandsbilder, die vor allem Störungen der<br />

Affekte <strong>und</strong> des Willens betrafen, ihre Relevanz für die forensisch-psychiatrische Praxis einbüssten. Viel-<br />

mehr integrierten französische <strong>und</strong> deutsche Psychiater solche Zustandsbilder nach <strong>und</strong> nach in das De-<br />

generationskonzept. Das Erklären psychischer Störungen durch krankhafte Veranlagungen führte zu einer<br />

Verlagerung des gerichtspsychiatrischen Interesses von einzelnen unerklärlichen Handlungen auf die ge-<br />

samte Persönlichkeit der DelinquentInnen. 227 Im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts waren schliesslich<br />

Bestrebungen, Typologien solcher «krimineller Persönlichkeiten» zu bilden <strong>und</strong> für die forensisch-<br />

226 Vgl. Andriopoulos, 1996; Leps, 1992; Wiener, 1990; Pick, 1989.<br />

227 Vgl. Kaufmann, 1995, 333f.<br />

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