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Psychiatrie und Strafjustiz

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fluss auf die Handlungsspielräume ihrer Exploranden. Ermöglicht wurde dieses Machtpotenzial durch die<br />

Bestimmungen des neuen Strafgesetzbuchs <strong>und</strong> das Berner Vollzugsmodell, welche dazu führten, dass<br />

sich die Entscheidungsmacht über die Dauer von strafrechtlichen Massnahmen von der Justiz in einem<br />

verstärkten Masse zu den Vollzugsbehörden verlagerte, die sich ihrerseits nur zu gern des psychiatrischen<br />

Spezialwissens bedienten. 1605<br />

Das Fallbeispiel von Eduard W. macht auf die besondere Bedeutung psychiatrischer Vollzugsempfehlun-<br />

gen in Fällen aufmerksam, wo eine Kastration zur Diskussion stand. Monika Stuker hat jüngst anhand von<br />

Gutachten der Irrenanstalt Münsingen gezeigt, dass Berner Psychiater seit den 1930er Jahren den Justiz-<br />

behörden regelmässig die Kastration von Sexualdelinquenten als Alternative zu einer Verwahrung vor-<br />

schlugen. 1606 Selbst die Berner Polizeidirektion erachtete 1949 die Kastration von Sexualdelinquenten als<br />

probates Mittel, um Rückfälle zu verhindern: «Bei Sittlichkeitsdelikten erwies sich die Durchführung der<br />

Kastration als geeignetes Heilmittel. Anschliessend folgt die von den Ärzten als unerlässlich vorgesehene<br />

Karenzfrist, die leider von den Betroffenen nicht immer richtig verstanden wird. Im Ganzen gesehen sind<br />

die durch diese Operation erreichten Erfolge beachtenswert.» 1607 Im Gegensatz zu eugenisch oder sozial-<br />

politisch motivierten Sterilisationen von Frauen (<strong>und</strong> in geringerem Ausmass auch von Männern) hat die<br />

schweizerische Forschung die von der <strong>Psychiatrie</strong> als «Heilmittel» deklarierte Kastration straffällig gewor-<br />

dener Männer bisher nur am Rande beachtet. Die Kastration von Sexualdelinquenten schloss sich zwar<br />

eng an die auch im Kanton Bern praktizierten eugenischen Massnahmen an. Wie Georg Breidenstein je-<br />

doch zu Recht festhält, deckten sich die Diskurse um Kastrationen <strong>und</strong> Sterilisationen nur partiell, be-<br />

zweckte doch die Kastration von Sexualdelinquenten nicht primär eine Verhinderung «erbkranken Nach-<br />

wuchses», sondern eine Charakteränderung der betroffenen Männer. 1608 Wie die folgenden zwei Beispiele<br />

zeigen, machte auch Wyrsch verschiedentlich die Kastration zur Bedingung für eine vorzeitige Entlassung.<br />

Gottlieb N. war bereits 1935 wegen Unzucht mit Kindern vor Gericht gestanden. Nach dem Verbüssen<br />

seiner Strafe hatte er ein intimes Verhältnis zur Tochter seines Onkels unterhalten. Als der Onkel begann,<br />

ebenfalls mit seiner eigenen Tochter sexuell zu verkehren, kam es zu Spannungen, in deren Verlauf Gott-<br />

lieb N. seine Geliebte erstach. Im Januar 1947 hatte sich Wyrsch nun über die Möglichkeit einer Entlas-<br />

sung von Gottlieb N. auszusprechen. Für eine Entlassung sprach in seinen Augen, dass sich die damaligen<br />

Verhältnisse kaum wieder einstellen dürften, vor allem dann nicht, wenn N. unter Schutzaufsicht gestellt<br />

würde. Der Aussage von Gottlieb N., der sich selbst als sexuell nicht mehr bedürftig bezeichnet hatte,<br />

hielt Wyrsch entgegen, dass «mit 38 Jahren ein Mann noch lange kein Greis» sei. Eine Kastration sei des-<br />

halb in diesem Fall das einzig geeignete Mittel, um Rückfälle zu vermeiden: «Falls N. sich bereit erklären<br />

wollte, sich kastrieren zu lassen, so könnte man sich mit einer Entlassung unter Schutzaufsicht wohl ab-<br />

finden.» Da Gottlieb N. aber eine Kastration wiederholt <strong>und</strong> ausdrücklich ablehnte, erschien es Wyrsch<br />

unmöglich, die Verantwortung für eine Entlassung zu übernehmen: «Mit Gewissheit oder Wahrschein-<br />

lichkeit lässt sich ein Rückfall in Sexualdelikte bei N. nach dieser Vorgeschichte nicht ausschliessen, <strong>und</strong><br />

deshalb muss man es den Behörden überlassen, ob sie die [Schutz-]Aufsicht als genügend strenge <strong>und</strong><br />

wirksam gestalten kann, so dass eine Entlassung verantwortet werden darf.» 1609 Noch expliziter auf die<br />

Alternative Kastration oder Verwahrung verwies Wyrsch im Fall des wegen Unzucht mit Kindern verur-<br />

1605 Foucault bezeichnet diesen Vorgang in Überwachen <strong>und</strong> Strafen als «Unabhängigkeitserklärung des Gefängnisses». Eine Individualisierung<br />

der Strafen bewirke, so Foucault, eine zunehmende Verschiebung von Machtbefugnissen von der Justiz zu den Vollzugsbehörden;<br />

vgl. Foucault, 1976, 313-329.<br />

1606 Stuker, 1999, 109-114.<br />

1607 Bericht über die Staatsverwaltung für den Kanton Bern, 1949, 35.<br />

1608 Breidenstein, 1996. Zur Sterilisationspraxis in der Schweiz: Jeanmonod/Heller/Gasser, 2002; Dubach, 1999.<br />

1609 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Gottlieb N. an die Strafanstalt Witzwil, 20. Januar 1947.<br />

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