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Psychiatrie und Strafjustiz

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Der Präzedenzfall Eugen L.<br />

1908 beantragte das Korrektionsgericht von Seftigen beim Regierungsrat erneut sichernde Massnahmen<br />

gegen einem vermindert zurechnungsfähigen Delinquenten. Im Gegensatz zum Fall von Ernst S. be-<br />

schloss die Regierung diesmal eine Änderung der bestehenden Rechtspraxis. Eugen L., deutscher Staats-<br />

bürger, der sich als russischer Offizier ausgegeben hatte, war wegen verschiedener Diebstähle <strong>und</strong> Betrü-<br />

gereien angeklagt. Bereits in Deutschland hatte sich L. mehrmals wegen Diebstahl, Betrug <strong>und</strong> weiteren<br />

Delikten vor Gericht zu verantworten gehabt <strong>und</strong> war dabei auch psychiatrisch begutachtet worden. Das<br />

psychiatrische Gutachten der Irrenanstalt Münsingen bezeichnete Eugen L. als einen «auf dem Gebiete<br />

der Moral erheblich beschränkten Menschen», als einen «moralisch Schwachsinnigen», der zudem an Epi-<br />

lepsie leide. Das Gutachten kam zum Schluss, dass seine «Willensfreiheit» erheblich vermindert sei. Zu-<br />

sätzlich sei er «gemeingefährlich <strong>und</strong> als solcher dauernd zu versorgen.» 1167 Das Gericht verurteilte Eugen<br />

L. zu 30 Tagen Einzelhaft, getilgt durch die ausgestandene Untersuchungshaft <strong>und</strong> zu 20 Jahren Kantons-<br />

verweisung. Damit hätte er sofort aus dem Kanton ausgewiesen werden können. Wie im Fall von Ernst S.<br />

gelangte das Gericht an den Regierungsrat <strong>und</strong> sprach sich für die Anwendung von Artikel 47 in Fällen<br />

aus, «wo, wie hier, der Angeklagte wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit nur teilweise von Strafe<br />

befreit, d.h. milder bestraft werde, als er bei Annahme vollständiger Zurechnungsfähigkeit bestraft werden<br />

müsse». Auch der Regierungsrat hegte keinen Zweifel an der «Gemeingefährlichkeit» von Eugen L. <strong>und</strong><br />

schloss sich dem psychiatrischen Gutachten an: «An seiner Gemeingefährlichkeit ist daher nicht zu zwei-<br />

feln, ebenso wenig an seiner anormalen geistigen Veranlagung, da sich L. in seiner Heimat als schwerer<br />

Epileptiker mehrfach erweisen hat». Wie der Beschluss festhält, entschloss sich die Regierung nach «reifli-<br />

cher Überlegung», von der bisherigen Praxis abzurücken. Er verhängte deshalb gegen den vermindert<br />

zurechnungsfähigen Eugen L. sichernde Massnahmen <strong>und</strong> internierte ihn bis zur Heimschaffung in einer<br />

Irrenanstalt. 1168<br />

Seine Praxisänderung begründete der Regierungsrat mit der Zweckbestimmung von Artikel 47 des Berner<br />

Strafgesetzbuchs. Dieser bezwecke, «der Administrativbehörde ein Mittel in die Hand zu geben, die Ge-<br />

sellschaft vor strafrechtlich nicht gleich einem Zurechnungsfähigen verantwortlichen Individuen, die ob-<br />

jektiv strafbare Handlungen begehen, sicherzustellen, wenn sie sich als derselben gefährlich erweisen».<br />

Dieser Sicherungszweck erlaube ebenfalls eine Ausweitung sichernder Massnahmen auf vermindert Zu-<br />

rechnungsfähige: «Die Sicherung der Gesellschaft erscheint nun gegenüber als gemindert zurechnungsfä-<br />

hig im Sinne des Gesetzes milder bestraften Individuen als ebenso, ja manchmal noch in höherem Masse<br />

geboten, wie gegenüber ganz unzurechnungsfähigen <strong>und</strong> gänzlich von Strafe befreiten Personen. Dem<br />

Zwecke des Gesetzes wird mithin durch Anwendung des Art. 47 StG auf Fälle wie den vorliegenden un-<br />

zweideutig gedient.» Mit einer juristischen Finesse behauptete der Regierungsrat die Vereinbarkeit seines<br />

Entscheids mit dem Wortlaut des Gesetzes: «[...] denn ein gemindert Zurechnungsfähiger, welcher [...] zu<br />

einer milderen Strafe verurteilt wird, ist tatsächlich teilweise von Strafe befreit, <strong>und</strong> diese seine, teilweise,<br />

Befreiung von Strafe hat, wenn er als gemeingefährlich zu betrachten ist, gerade die nämliche Wirkung<br />

gegenüber der menschlichen Gesellschaft, wie die gänzliche Strafbefreiung eines gemeingefährlichen voll-<br />

ständigen Unzurechnungsfähigen, nämlich: dieselbe seinen erneuten Angriffen, wenn nicht Sicherungs-<br />

massnahmen gegen ihn ergriffen werden, wieder auszusetzen.» 1169<br />

1167 PZM, KG 3317 (3342), Gutachten über Eugen L., o. D. [1908].<br />

1168 StAB A II, Band 1470, RRB 926. Die Gerichtsakten zu diesem Fall sind nicht überliefert.<br />

1169 StAB A II, Band 1470, RRB 926; Monatsschrift für Bernisches Verwaltungsrecht, 6, 1908, 129-130; Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins,<br />

44, 1908, 579-580.<br />

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