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Psychiatrie und Strafjustiz

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auf. 1107 Die frühe Institutionalisierung von «Sicherungsmassregeln» zum Schutz der Gesellschaft vor «ge-<br />

meingefährlichen» StraftäterInnen in der Schweiz wirft die Frage nach den Traditionen solcher Administ-<br />

rativmassnahmen auf. Im Zusammenhang mit der Analyse der Reformpostulate der internationalen Straf-<br />

rechtsreformbewegung in Kapitel 3.2 ist darauf hingewiesen worden, dass das von den Reformern konzi-<br />

pierte Massnahmenrecht durchaus Vorläufer besass. So hatte bereits das Allgemeine Preussische Land-<br />

recht von 1794 zeitlich unbegrenzte Haftstrafen gegen rückfällige Verbrecher bis zur erfolgten Besserung<br />

vorgesehen. Die unter dem politischen Druck der Liberalen zustande gekommenen Strafrechtskodifikati-<br />

onen der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts brachen dann aber bewusst mit der spezialpräventiven Tradition<br />

des spätabsolutistischen Polizeistaats. Das preussische Strafgesetzbuch von 1851, das das Landrecht<br />

ablöste, sah schliesslich keine Bestimmungen über sichernde Massnahmen mehr vor. 1108 Auch die Strafge-<br />

setzgebung des Deutschen Reichs verzichtete auf die Regelung der Verwahrung von unzurechnungsfähi-<br />

gen oder rückfälligen Straftätern. 1109 In Deutschland fanden sichernde Massnahmen erst mit dem von den<br />

Nationalsozialisten erlassenen «Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher <strong>und</strong> über Massregeln<br />

der Sicherung <strong>und</strong> Besserung» wieder Eingang ins Strafrecht. 1110<br />

Der Fokus auf das materielle Strafrecht lässt jedoch ausser Acht, dass sichernde Massnahmen im Bereich<br />

des Verwaltungsrechts auch nach der Durchsetzung des liberalen Strafparadigmas weiterhin Bestand hat-<br />

ten. 1111 So konnten in Deutschland auf Geheiss der Landespolizeibehörden nach wie vor freiheitsentzie-<br />

hende Massnahmen angeordnet werden, denen jedoch kein Strafcharakter zugebilligt wurde. Solche admi-<br />

nistrativrechtlichen Bestimmungen kamen etwa im Zusammenhang mit Einweisungen in Irren- <strong>und</strong> Ar-<br />

beitsanstalten zur Anwendung. Sie erlaubten ebenfalls die Verwahrung unzurechnungsfähiger <strong>und</strong> «ge-<br />

meingefährlicher» DelinquentInnen. 1112 Im Gegensatz zu den umliegenden Ländern integrierten viele<br />

Schweizer Kantone solche Verwahrungsbestimmungen sogar in ihre Strafgesetzbücher, ohne jedoch den<br />

administrativrechtlichen Charakter solcher Bestimmungen in Frage zu stellen. So hiess es im Zürcher<br />

Strafgesetzbuch von 1835 bezüglich der Behandlung unzurechnungsfähiger DelinquentInnen: «In den [...]<br />

bezeichneten Fällen ist es Sache der Polizeibehörden, Ergreifung von Vorsichtsmassregeln für die Zu-<br />

kunft zu veranstalten <strong>und</strong> nötigen Falls zu beaufsichtigen.» 1113 Deutlich ausgesprochen wurde hier die<br />

Trennung zwischen den Funktionen des Justiz- <strong>und</strong> der Verwaltungsbehörden. Verwaltungsrechtliche<br />

Verwahrungsbestimmungen orientierten sich denn auch weniger am individuellen Schuldprinzip als an der<br />

polizeilichen Generalklausel, «Gefahren» für Gesellschaft <strong>und</strong> Individuen zu verhindern <strong>und</strong> zu bekämp-<br />

fen. Sie trugen auf diese Weise dazu bei, die für die spätere Strafrechtsreform zentrale Zweckmässigkeits-<br />

überlegungen gewissermassen von «unten» her ins öffentliche Recht einzuschreiben. 1114<br />

Wie bereits in Kapitel 3.2 festgehalten wurde, bestand vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser administrativrechtli-<br />

chen Traditionen die Innovation der Strafrechtsreformer der Jahrh<strong>und</strong>ertwende weniger in der «Erfin-<br />

dung» der Kategorie des «gefährlichen Individuums», als vielmehr in der Übertragung dieser Kategorie<br />

vom Verwaltungs- in das Strafrecht. 1115 Diese Übertragung verlief allerdings nicht ohne Probleme, wie die<br />

1107 Vgl. Entwurf 1843, Artikel 65; Entwurf 1852, Artikel 77; Lenz, 1899, 202-209; Stooss, 1892/93, 192.<br />

1108 Nutz, 2001, 105-109; Cartuyvels, 1999; Evans, 1997, 45f; Schmidt, 1995, 251-253, 314-324.<br />

1109 Aschaffenburg, 1912, 27-30; Weber, 1912, 529.<br />

1110 Schewe, 1999; Schmidt, 1995, 430-432.<br />

1111 Vgl. Fussnote 315.<br />

1112 Zur Praxis in Deutschland: Wetzell, 1996, 281. Zum französischen Irrengesetz von 1838, dessen Artikel 18 den Préféts die<br />

zwangsweise Einweisung einer Person erlaubte, «deren Irresein die öffentliche Ordnung oder die Sicherheit von Personen bedroht»:<br />

Castel, 1979, 334-343.<br />

1113 StGB ZH 1835, Artikel 64; Ludi, 1999, 377-380.<br />

1114 Vgl. Stolleis, 1989, 140. Zur Entwicklung des öffentlichen Rechts im Kontext der Herausbildung des modernen Verwaltungsstaats:<br />

Raphael, 2000.<br />

1115 Vgl. Wüst, 1905, 23-43; Bossart, 1965.<br />

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