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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Hintergründe der Tat: familiäre <strong>und</strong> eheliche Konflikte<br />

Bereits der B<strong>und</strong> hatte auf die Familienverhältnisse Binggelis hingewiesen <strong>und</strong> darin einen möglichen<br />

Gr<strong>und</strong> für die Tat gesehen. Diesen Faden nahmen die beiden Psychiater in ihrem Gutachten wieder auf,<br />

als sie ausführlich auf die familiären <strong>und</strong> ehelichen Konflikte eingingen. Binggeli selbst beklagte sich in<br />

den Unterredungen, er sei von seinen Angehörigen seit Jahren «verachtet <strong>und</strong> verfolgt» worden; diese<br />

hätten ihn jeweils im Streit an die durchgemachte Geisteskrankheit erinnert. Er habe weniger gegolten <strong>und</strong><br />

weniger Recht bekommen als die andern, besonders als der Bruder. Seiner Mutter warf er vor, ihn bei den<br />

Methodisten eingeführt zu haben. Sie habe ihn dadurch «in jungen Jahren auf Abwegen geführt», was für<br />

sein Leben «von den unglücklichsten Folgen gewesen sei». Er habe sich mehr <strong>und</strong> mehr zurückgezogen<br />

<strong>und</strong> sei dadurch ein «unkameradschaftlicher <strong>und</strong> linkischer Mensch» geworden. Zudem habe sie ihn knapp<br />

mit Geld gehalten <strong>und</strong> seine Frau unterstützt. Diese habe ihm nach der Geburt des Kindes den Ge-<br />

schlechtsverkehr verweigert <strong>und</strong> sich im Streit «mit Vorliebe auf die andere Seite gestellt, statt dass sie zu<br />

ihm gehalten hätte». Wegen «momentanen Misshelligkeiten» habe er bereits 1896 die Scheidung ange-<br />

strengt, dieses Ansinnen dann jedoch nicht weiter verfolgt. Dem Bruder legte Binggeli zur Last, er habe<br />

sich «wie der Meister im Hause aufgeführt» <strong>und</strong> alleine die Verwaltung des stattlichen Guts besorgt. Er<br />

habe annehmen müssen, dass der Bruder Geld auf die Seite lege, während er selbst nichts erhalte. Er habe<br />

sich mehr <strong>und</strong> mehr überzeugt, «dass der Bruder das Heimwesen an sich zu ziehen versuche» <strong>und</strong> behaup-<br />

tete den Psychiatern gegenüber sogar, dass die Übertragung des Hofes bereits im Geheimen stattgef<strong>und</strong>en<br />

habe. 859<br />

Dieser Schilderung der Familien- <strong>und</strong> Eheverhältnisse stellte das psychiatrische Gutachten die Einschät-<br />

zungen verschiedener Zeugen gegenüber. Ein mit der Familie verwandte Amtsrichter bezeichnete Binggeli<br />

als «ein empfindlicher, verschlossener, zu Unzufriedenheit neigender Charakter», der glaube seit längerer<br />

Zeit von seiner Familie «zurückgesetzt» zu werden. Von einem Verkauf des Familienguts an den älteren<br />

Bruder sei aber nie die Rede gewesen. Mehrere Zeugen äusserten sich auch über den Geisteszustand Bing-<br />

gelis. So meinte der Bruder, Christian sei zwar, als er das erste Mal in die Waldau kam, «etwas gemüts-<br />

krank» gewesen, später hielt er ihn hingegen «nicht mehr für krank, sondern für bös <strong>und</strong> rachsüchtig». Er<br />

gab sich überzeugt, dass Christian die Mordtat seit längerem geplant habe. Dem Pfarrer von Schwarzen-<br />

burg hatte Binggeli «nie den Eindruck eines Geisteskranken» gemacht; er bezeichnete ihn aber als einen<br />

«sonderbaren, verschlossenen Menschen». Ähnliche Aussagen gaben zwei Knechte der Familie zu Proto-<br />

koll. Binggeli habe «immer etwas Aussergewöhnliches gezeigt», es liege deshalb die Vermutung nahe, «dass<br />

er die Zurechnungsfähigkeit nicht in vollem Masse besessen habe». Binggeli sei zwar nach seinem letzten<br />

Anstaltsaufenthalt als geheilt entlassen worden, er sei jedoch «von etwas eigenartiger Natur» <strong>und</strong> «jähzor-<br />

nig» gewesen. 860<br />

Mit der Wiedergabe dieser Aussagen legte das Gutachten gleichsam ein Netz von Interpretationssträngen<br />

aus, die vom sozialen Umfeld der Familien ausgingen. Die Aussagen Binggelis <strong>und</strong> der Zeugen machten<br />

mehrere Konfliktlinien deutlich, die je nach Standpunkt unterschiedlich eingeschätzt wurden. Beharrte<br />

Binggeli darauf, von seiner Familien ungerecht behandelt worden zu sein, so sah seine Umgebung die<br />

Konflikte vielmehr in seiner persönlichen «Eigenart» <strong>und</strong> in seinem «Jähzorn» begründet. Auf diese letzte<br />

Deutung berief sich auch Binggeli, als er den Tathergang nacherzählte. Er berichtete den Psychiatern, dass<br />

sich am Morgen des 5. Mai 1900 zwischen ihm <strong>und</strong> den beiden Frauen ein Streit über die Erledigung der<br />

bevorstehenden Arbeiten entspannt habe. Dieser Wortwechsel habe ihn in «grossen Zorn» versetzt, «<strong>und</strong><br />

859 Glaser, 1901, 345-347.<br />

860 Glaser, 1901, 336-340.<br />

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