13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

werden konnten, nur auf einen «abnormen» <strong>und</strong> damit «unfreien» Willen zurückführen. Konsequenterwei-<br />

se verneinte das Gutachten die Willensfreiheit Binggelis.<br />

Noch stärker als das erste Gutachten reduzierte der zweite Deutungsversuch die Mordtat auf den «abnor-<br />

men Charakter» des Täters. Die Psychiater kamen hier nur noch am Rande auf die verschiedenen Kon-<br />

fliktlinien innerhalb der Familie zu sprechen. Die Ursachen der Tat lagen in ihren Augen nicht in den<br />

familiären Streitigkeiten oder einer eigentlichen Geisteskrankheit, sie machten vielmehr den «reizbaren,<br />

misstrauischen Charakter» des Exploranden für das Verbrechen verantwortlich: «So ist denn auch Bingge-<br />

lis Mordtat nur denkbar als der Ausfluss seiner geistig abnormen Konstitution [...]». 876 Mit dieser Aussage<br />

war die Deutungsarbeit der Sachverständigen abgeschlossen. Das Familiendrama war nun zu einem denk-<br />

baren Akt geworden <strong>und</strong> die anfängliche Fassungslosigkeit durch eine psychopathologische Erklärung<br />

ersetzt. Die Interpretation der Psychiater reduzierte das Inkommensurable der grässlichen Mordtat auf<br />

eine psychische Normabweichung <strong>und</strong> füllte damit gleichsam die gesellschaftliche Sinnlücke, die sich mit<br />

der «Bluttat von Äckenmatt» aufgetan hatte. Das Gutachten machte schwer fassbare Momente wie «Jäh-<br />

zorn» oder «Rache» zu Ausflüssen eines «abnormen» <strong>und</strong> «reizbaren Charakters», der sich auf einer Normalitätsskala<br />

verorten liess. Gleichzeitig reduzierte das Gutachten die Komplexität des sozialen Umfelds<br />

der Tat. So war nicht mehr die Rede davon, dass die Ehefrau gegenüber den Ärzten der Waldau zugege-<br />

ben hatte, «dass Binggeli daheim wirklich nicht ganz richtig behandelt wurde <strong>und</strong> seine Dienstboten ihm<br />

den Gehorsam verweigerten, weil er in der Waldau gewesen wäre, <strong>und</strong> ihn noch mehr reizten, wenn er<br />

schon zornig war». 877 Solchen ambivalenten Aussagen über die Familienverhältnisse stellte das Gutachten<br />

eine in sich stringente Erzählung gegenüber, die die feindselige Haltung Binggelis gegenüber seiner Familie<br />

auf einen «reizbaren <strong>und</strong> misstrauischen Charakters» zurückführte. Das «dunkle Rätsel der menschlichen<br />

Natur» fand für die Sachverständigen somit seine Lösung im «abnormen Charakter» Binggelis.<br />

Eine derartige Medikalisierung des Verbrechens schuf in den Augen von Binggelis Verteidiger neue Hand-<br />

lungsoptionen. In einem Schreiben an die Kriminalkammer verlangte er, dass das Verfahren gegen Bing-<br />

geli wegen Unzurechnungsfähigkeit eingestellt <strong>und</strong> Binggeli direkt in eine Irrenanstalt versetzt werde. Zur<br />

Begründung seines Antrags stützte er sich auf die Argumentation der Psychiater: «Er [Binggeli] hatte ja<br />

keinen freien Willen; er musste im gegebenen Moment so handeln, wie er gehandelt hat. Wie will man ihn<br />

für eine Tat verantwortlich machen, die er begehen musste, weil es ihm nicht möglich war, den Willen zu<br />

haben, sie nicht zu begehen?» 878 Das zweite Gutachten erlaubte dem Verteidiger somit, die Tat als eine<br />

Notwendigkeit hinzustellen, die der «Willensfreiheit» des Täters entzogen war <strong>und</strong> in dessen «anormalem<br />

geistigen Zustand» begründet lag. Anders als bei der Anordnung des Gutachtens ging das Gericht auf<br />

diese Taktik, die auf eine Verhinderung einer zweiten Gerichtsverhandlung hinauslief jedoch nicht ein. 879<br />

Der zweite Prozess: Psychiatrische Deutungsmuster im Widerstreit<br />

Der zweite Prozess gegen Binggeli, der im Juni 1901 stattfand, stand ganz im Zeichen der psychiatrischen<br />

Sachverständigen. Freilich geriet ihre Interpretation der Tat durch den als Zeugen geladenen Direktor der<br />

Waldau unter Druck. Von Speyr machte in der mündlichen Erläuterung seines bei den Akten liegenden<br />

Berichts klar, dass er der Ansicht seiner Kollegen nicht folgte. Seiner Meinung nach litt Binggeli an einer<br />

eigentlichen Geisteskrankheit, an «Dementia praecox»: «Was bei Binggelis letztem Austritt aus der Waldau<br />

unser aller Überzeugung war, Binggeli ist geisteskrank <strong>und</strong> nicht geheilt, sogar unheilbar, das halte ich nun<br />

876 Glaser, 1901, 365.<br />

877 Speyr, 1917, 377; StAB BB 15.4, Band 1717, Dossier 9458, Ärztlicher Bericht der Waldau, 23. Juni 1900.<br />

878 StAB BB 15.4, Band 1717, Dossier 9458, Verteidiger Lenz an die Kriminalkammer, 16. Januar 1901.<br />

879 StAB BB 15.4, Band 1717, Dossier 9458, Anklagekammer an die Kriminalkammer, 20. Februar 1901.<br />

200

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!