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Psychiatrie und Strafjustiz

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S. präsentierte die Kumulation von Strafe <strong>und</strong> sichernder Massnahme als eine Ungerechtigkeit, die es ihm<br />

verhindere, nach abgesessener Strafe zu zeigen, dass er sich «durch Energie <strong>und</strong> guten Willen» bessern<br />

könne. Ernst S. wusste sehr wohl, dass eine Strafe im Gegensatz zu einer Massnahme immer mit einer<br />

klaren Begrenzung des Freiheitsentzugs verb<strong>und</strong>en war. Das Abbüssen der Strafe bedeutete für ihn, einen<br />

«Anspruch auf die Freiheit» <strong>und</strong> eine «neue Chance» zu erhalten. Eine nachträgliche Einweisung in eine<br />

Irrenanstalt verhiess dagegen einen Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit.<br />

Am 25. März 1904 lehnte der Regierungsrat den Antrag des Korrektionsgerichts ab. Begründet wurde der<br />

Entscheid mit der fehlenden Anwendbarkeit von Artikel 47, da sich dieser nur auf gänzlich Unzurech-<br />

nungsfähige beziehe. Ausserdem existiere keine andere Vorschrift, «welche es dem Regierungsrat gestatten<br />

würde, die Versetzung [von] S. in eine Irrenanstalt zu beschliessen. Es kann daher eine solche Versetzung<br />

angesichts der in Art. 73 der Kantonsverfassung aufgestellten Garantie der persönlichen Freiheit nicht<br />

beschlossen werden.» 1165 Der Entscheid erwähnte zwar die Eingabe von Ernst S., in der Begründung kam<br />

jedoch nicht zum Ausdruck, welches Gewicht ihr die Regierung beimass. Die Regierung schloss allerdings<br />

insofern an die Argumentation von Ernst S. an, als sie die Garantie der persönlichen Freiheitsrechte gegenüber<br />

dem Schutzbedürfnis der Gesellschaft eindeutig in den Vordergr<strong>und</strong> stellte. Zurückhaltung zeigte<br />

sie ebenfalls bezüglich der Möglichkeit, Ernst S. aufgr<strong>und</strong> einer anderen gesetzlichen Gr<strong>und</strong>lage, etwa<br />

aufgr<strong>und</strong> des Anstaltsdekrets, in die Irrenanstalt einzuweisen. In einem Punkt unterschied sich der Be-<br />

schluss der Regierung jedoch von einem ähnlichen Antrag, der anlässlich des ersten Freispruchs von Ernst<br />

S. im Jahre 1901 gestellt worden war. Damals hatte der Regierungsrat die Ablehnung von sichernden<br />

Massnahmen noch mit einer expliziten Kritik an der psychiatrischen Beurteilung der «Gemeingefährlich-<br />

keit» begründet: «Diese Schlüsse [des damaligen Gutachtens der Waldau] enthalten, wenigstens für einen<br />

Laien, insofern einen Widerspruch, als S. in ihnen auf der einen Seite als Psychopath, auf der andern Seite<br />

aber als nicht eigentlich geisteskrank bezeichnet wird. Bei näherer Prüfung des Gutachtens kann sich nun<br />

der Regierungsrat nicht überzeugen, dass der derzeitige geistige Zustand des S. wirklich dessen Unterbrin-<br />

gung in einer Irrenanstalt im Interesse der öffentlichen Sicherheit erfordern würde.» 1166 Von einer solchen<br />

Kritik an der psychiatrischen Expertenmeinung war nun drei Jahre später nicht mehr die Rede.<br />

Der Fall von Ernst S. verdeutlicht beispielhaft die Konstellation, in die eine psychiatrisch-juristische Beur-<br />

teilung der «Gemeingefährlichkeit» eingeb<strong>und</strong>en war. Am Anfang stand ein psychiatrisches Gutachten, das<br />

Ernst S. als vermindert zurechnungsfähig befand <strong>und</strong> eine Verwahrung auf unbestimmte Zeit in einer<br />

Anstalt empfahl. Die Justizbehörden folgten der psychiatrischen Deutung des kriminellen Verhaltens von<br />

Ernst S. <strong>und</strong> eigneten sich die Empfehlungen der Sachverständigen ohne Einschränkungen an. Die Ein-<br />

gabe von Ernst S. stellte dem psychiatrisch-juristischen Deutungsrahmen dagegen eine Erzählung gegen-<br />

über, die die begangenen Delikte nicht als Ausdruck einer unveränderlichen «psychopathischen Anlage»,<br />

sondern als Stadien eines Lebenslaufs betrachtete, die kein Präjudiz für künftiges kriminelles Verhalten<br />

bedeuteten. Der Beschluss des Regierungsrats, der sich gegen die Verhängung der sichernden Massnahme<br />

aussprach, beendete schliesslich diesen Aushandlungsprozess zwischen Psychiatern, Justizbehörden <strong>und</strong><br />

dem Angeklagten. Dieser Beschluss anerkannte zwar gr<strong>und</strong>sätzlich die Einschätzung der Psychiater <strong>und</strong><br />

damit die prinzipielle Zweckmässigkeit von sichernden Massnahmen. Aus rechtlichen Gründen sah er<br />

indes keine Möglichkeit, der Empfehlung des Gerichts zu folgen.<br />

1165 StAB A II, Band 1464, RRB 1300; vgl. Monatsschrift für Bernisches Verwaltungsrecht, 2, 1904, 223.<br />

1166 StAB A II, Band 1461, RRB 2435; vgl. die Replik der Psychiater in ihrem Gutachten von 1904.<br />

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