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Psychiatrie und Strafjustiz

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Schweizer Irrenärzte von 1904 verkündeten die beiden Initianten eindringlich, «dass die Absonderung<br />

gefährlicher krimineller Geisteskranker <strong>und</strong> ähnlicher Elemente für die schweiz. Anstalten wohl begründet<br />

<strong>und</strong> vielerorts ein dringendes Bedürfnis sind.» Unter den möglichen Lösungen kam für sie allein die «Er-<br />

richtung einer selbständigen Zentralanstalt» in Frage. Diese müsste ein «eidgenössisches Institut» sein,<br />

unter ärztlicher Leitung stehen <strong>und</strong> 300 bis 350 Männer aufnehmen können. 1230 Mit ihrem Vorschlag setz-<br />

ten sich Frölich <strong>und</strong> von Muralt nicht nur von der bisherigen Praxis in der Schweiz, sondern auch explizit<br />

vom mainstream der deutschen <strong>Psychiatrie</strong> ab. Eine ähnliche Meinung vertrat der Neuenburger Arzt Edu-<br />

ard Borel (1877–1961) in seiner Dissertation von 1904. Er kam zum Schluss, dass nur die Errichtung einer<br />

Zentralanstalt den unbefriedigenden Verhältnissen in den Irrenanstalten abhelfen könne. Wie Frölich <strong>und</strong><br />

von Muralt stützte er sich auf eine Umfrage bei 25 Schweizer Irrenanstalten. Die Resultate seiner Umfrage<br />

zeigten jedoch ein deutlich skeptischeres Bild: Nur zwei Anstaltsdirektoren sprachen sich für eine Spezial-<br />

anstalt aus, dreizehn erklärten sich mehr oder weniger mit dem Status quo zufrieden. Entgegen der Resul-<br />

tate seiner Umfrage postulierte Borel jedoch die Errichtung einer Spezialanstalt für geistesgestörte Straftä-<br />

ter. 1231<br />

Die Reaktionen der Vereinsversammlung auf die Umfrage von Frölich <strong>und</strong> von Muralt fielen ebenfalls<br />

zwiespältig aus. Mehrere Anstaltsdirektoren sprachen sich für das Beibehalten der bisherigen Praxis <strong>und</strong><br />

die Verteilung krimineller Geisteskranke auf die bestehenden Abteilungen der Irrenanstalten aus. Eben-<br />

falls angezweifelt wurde die Aussagekraft der statistischen Erhebung. Der Direktor der Rheinau, Friedrich<br />

Ris (1867–1931), meinte sogar, «dass die Irrenanstalten eben sehen müssen, wie sie mit den kriminellen<br />

Irren fertig werden.» Trotz solcher Bedenken verabschiedeten die versammelten Irrenärzte die vorge-<br />

schlagene Resolution zugunsten der Errichtung einer «zentralen eidgenössischen Anstalt für gemeinge-<br />

fährliche kriminelle Geisteskranke». Eine Spezialkommission sollte die Frage weiter verfolgen. 1232 In einer<br />

erneuten Umfrage sprachen sich 1905 von 26 Anstaltsdirektoren fünfzehn für eine Zentralanstalt, fünf für<br />

Annexe an Strafanstalten <strong>und</strong> vier gegen das Projekt aus. 1233 Aus der Arbeit der Spezialkommission resul-<br />

tierte schliesslich im November 1906 eine Eingabe an das Eidgenössische Justizdepartement. Diese hielt<br />

zunächst fest, «dass die grosse Mehrzahl der schweiz. Psychiater die gegenwärtige Art der Versorgung<br />

gewisser krimineller Elemente unter den Geisteskranken in den öffentlichen Irrenanstalten für unzweck-<br />

mässig <strong>und</strong> die Gründung von besonderen Anstalten zu diesem Zwecke für dringend nötig erachtet.» Die<br />

Irrenärzte forderten eine Abänderung des Entwurfs für ein Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch von<br />

1902. Demnach sollte der B<strong>und</strong> nicht nur die Errichtung einer Anstalt zur Verwahrung von Geisteskran-<br />

ken oder vermindert Zurechnungsfähigen mit Beiträgen unterstützen, sondern diese allein oder gemein-<br />

sam mit den Kantonen selbst «an die Hand nehmen» können. 1234<br />

Wie der Direktor der Irrenanstalt St. Urban rückblickend feststellte, zeichnete sich vor dem Ersten Welt-<br />

krieg unter den Schweizer Psychiatern ein Meinungsumschwung ab: «Im Wandel der letzten zehn Jahre<br />

hat ein Umschlag bei den schweizerischen Irrenärzten unter vielfachen Einflüssen stattgef<strong>und</strong>en, so dass<br />

die Mehrheit nicht mehr für die Schaffung einer Zentralanstalt eintreten dürfte.» 1235 Zunächst hatte aller-<br />

dings die Aussicht auf die Verwirklichung der Eingabe der Psychiater von 1906 gar nicht schlecht ausge-<br />

1230 ASGP, Protokoll des Vereins schweizerischer Irrenärzte, 1904, 4-12.<br />

1231 Borel, 1904.<br />

1232 ASGP, Protokoll des Vereins schweizerischer Irrenärzte, 1904, 12-14.<br />

1233 ASGP, Protokoll des Vereins schweizerischer Irrenärzte, 1905, 27.<br />

1234 BAR E 4110 (A) -/42, Band 31, Eingabe des Vereins Schweizer Irrenärzte an das Eidgenössische Justizdepartement, 18.<br />

November 1906; BAR E 4110 (A) -/42, Band 105, B<strong>und</strong>esgesetz betreffend Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuches,<br />

Vorentwurf September/November 1902, Artikel 47.<br />

1235 Lisibach, 1915, 29.<br />

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