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Psychiatrie und Strafjustiz

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wurden zu einer rein internen Angelegenheit der Irrenanstalten erklärt. Überhaupt liest sich das Gutachten<br />

<strong>und</strong> die Verwendung der Metapher des «Anstaltsorganismus» wie ein Plädoyer für die Autonomie der<br />

Psychiater im Bereich der Irrenpflege. Im Gegenzug liess das Gutachten den politischen Handlungsbedarf<br />

beträchtlich zusammenschrumpfen. Diese Minimierung des Handlungsbedarf wurde von der Strafvoll-<br />

zugskommission in ihrem Schlussbericht nur zu gerne aufgenommen, erlaubte sie doch potenzielle Rei-<br />

bungsflächen um Kompetenz- <strong>und</strong> Ressourceverteilungen von vornherein zu entschärfen: «Die Verwah-<br />

rung <strong>und</strong> Versorgung Unzurechnungsfähiger <strong>und</strong> vermindert Zurechnungsfähiger [...] stellt keine beson-<br />

deren bauliche Anforderungen an die bestehenden Anstalten, insbesondere erheischt sie keine Spezialan-<br />

stalten für die kriminellen Eingewiesenen oder sonstige räumliche Trennung dieser Eingewiesenen von<br />

den übrigen Anstaltsinsassen. Die Kommission hält dafür, es sollten mit der Zeit für die Behandlung ge-<br />

meingefährlicher Geisteskranker so genannte feste Häuser erstellt werden [...]». 1265 Immerhin wies Ris in<br />

der Gesamtkommission darauf hin, dass im Einführungsgesetz eine Subvention solcher Annexe durch den<br />

B<strong>und</strong> nicht ausgeschlossen werden sollte. 1266 Diesem Wunsch folgend, sah die Botschaft des B<strong>und</strong>esrats<br />

von 1918 in Artikel 412 fakultative B<strong>und</strong>essubventionen für die «Errichtung besonderer Abteilungen an<br />

Heil- oder Pflegeanstalten vor, die dazu bestimmt sind, vom Richter eingewiesene gefährliche Geistes-<br />

kranke aufzunehmen». 1267<br />

Zum andern wies das Gutachten Ris in Richtung einer neuen Strategie, die auf eine teilweise Demedikali-<br />

sierung des Massnahmenvollzugs abzielte. Die Gruppe der «Grenzfälle», deren Begutachtung <strong>und</strong> Behand-<br />

lung die Psychiater seit den 1880er Jahren unerlässlich gefordert hatten, sollten, was die Unterbringung<br />

anbelangte, wieder dem regulären Strafvollzug, respektive der neuen Verwahrungsanstalt für Gewohn-<br />

heitsverbrecher überlassen werden. Diese Ansicht gewann, wie im nächsten Unterkapitel gezeigt werden<br />

soll, seit dem Ersten Weltkrieg innerhalb der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> zunehmend an Gewicht. Auf die Mög-<br />

lichkeit, «Degenerierte» <strong>und</strong> «Gewohnheitsverbrecher» in die Verwahrungsanstalt einzuweisen, hatte be-<br />

reits 1905 der Berner Psychiater Good hingewiesen. 1268 Auch in den Diskussionen auf dem Juristentag<br />

von 1913 wurde dieser Gedanke aufgenommen. Delaquis meinte in seinem Referat, «diese moralisch De-<br />

fekten sind also die K<strong>und</strong>en für diese Verwahrungsanstalt [...]». 1269 Auch Zürcher sah in der Verwahrungs-<br />

anstalt einen Ausweg, um aus politischen Gründen die Errichtung spezieller Annexe für vermindert Zu-<br />

rechnungsfähige umgehen zu können. Er war sich der Ambivalenz dieser Haltung dabei aber bewusst:<br />

«Gegen eine solche Einweisung spricht allerdings die theoretische Überlegung, dass jene Verwahrungsanstalten<br />

nicht für Kranke gedacht sind, aber in praktischer Hinsicht ist wohl zu sagen, dass in Wirklichkeit<br />

auch in diesen Verwahrungsanstalten keine oder nur wenige Ges<strong>und</strong>e sich befinden werden; in der Regel<br />

wird der Gewohnheitsverbrecher ein vermindert Zurechnungsfähiger sein.» 1270<br />

Obwohl das Gutachten Ris, der Forderung nach Errichtung spezialisierter forensisch-psychiatrischer In-<br />

stitutionen keine endgültige Absage erteilte, minimierte es den politischen Handlungsbedarf in dieser Fra-<br />

ge beträchtlich. Die Empfehlungen der Strafvollzugskommission gingen denn auch deutlich hinter die<br />

Resolutionen des Juristenvereins von 1913 <strong>und</strong> des Gefängnisvereins von 1916 zurück. Verantwortlich für<br />

den Meinungsumschwung der Schweizer Psychiater, wie er im Gutachten Ris abschliessend zum Aus-<br />

druck kam, dürfte ein Konglomerat von Gründen sein: Der Wunsch, die professionelle Autonomie zu<br />

1265 Expertenkommission, 1912/Beilagenband, 348.<br />

1266 Expertenkommission, 1912/Beilagenband, 289.<br />

1267 BBl 1918 IV, 227. Das Parlament weitete die fakultative Subventionierung auf die Errichtung neuer <strong>und</strong> allein für diesen<br />

Zweck bestimmter Anstalten aus; vgl. Sten. Bull. NR, 1930, 89-97.<br />

1268 ASGP, Protokoll des Vereins schweizerischer Irrenärzte, 1905, 28.<br />

1269 Delaquis, 1913, 548.<br />

1270 Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins, 1913, 765.<br />

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