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Psychiatrie und Strafjustiz

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derung der Zurechnungsfähigkeit «fraglich» sei, da Christian B. bereits früher wiederholt Branddrohungen<br />

ausgestossen habe. 1093<br />

Das Institut einer verminderten Zurechnungsfähigkeit im Berner Strafgesetzbuch erlaubte den Geschwo-<br />

renen, zwischen Anklage <strong>und</strong> Verteidigung zu vermitteln. So bejahte der Staatsanwalt vorbehaltlos die<br />

Zurechnungsfähigkeit im Fall von August B., der wegen Eigentumsbeschädigung <strong>und</strong> Misshandlung ange-<br />

klagt war. Der Verteidiger berief sich dagegen auf das psychiatrische Gutachten, welches das Vorhanden-<br />

sein einer epileptischen Störung nicht mit Sicherheit ausschliessen wollte, <strong>und</strong> forderte Freispruch wegen<br />

Unzurechnungsfähigkeit. Die Geschworenen bezogen in diesem Fall eine Mittelposition <strong>und</strong> erkannten<br />

auf verminderte Zurechnungsfähigkeit. Die Kriminalkammer begründete dies nachträglich damit, dass<br />

sich August B. zwar beim Begehen der Eigentumsbeschädigung «zweifellos in einem anormalen Zustand»<br />

bef<strong>und</strong>en habe, nicht aber beim handgreiflichen Streit, der zu den eingeklagten Misshandlungen geführt<br />

hatte. 1094 Solche Fälle zeigen, wie sich Divergenzen zwischen Gutachten <strong>und</strong> den Prozessparteien über das<br />

Institut der verminderten Zurechnungsfähigkeit austarieren liessen. Die Verteidiger verfügten vor Gericht<br />

allerdings nicht nur über die Strategie, die Schuldfähigkeit ihrer Mandanten anzuzweifeln. Sie konnten, wie<br />

der Fall von Marie G. zeigt, ebenfalls die Erfüllung des eingeklagten Tatbestands in Zweifel ziehen. Marie<br />

G., bei der die Sachverständigen eine «Hysterie» diagnostiziert hatten, war angeklagt, aus Verzweiflung<br />

über die wirtschaftliche Lage ihrer Familie versucht zu haben, das eigene Haus anzuzünden. Entstanden<br />

war dabei allerdings nur ein geringfügiger Sachschaden. Der Staatsanwalt, der die psychiatrische Begutach-<br />

tung angeordnet hatte, plädierte auf verminderte Zurechnungsfähigkeit, der Verteidiger dagegen auf Frei-<br />

spruch von der Anklage der versuchten Brandstiftung. Die Geschworenen sprachen Marie G. schliesslich<br />

frei. 1095 Die Divergenzen zwischen Anklage <strong>und</strong> Verteidigung wurden hier über die Beurteilung des Tatbe-<br />

stands <strong>und</strong> nicht über die Schuldfähigkeit austariert.<br />

Fazit: Konflikt <strong>und</strong> Konsens in der forensisch-psychiatrischen Praxis<br />

Die Kompetenz zur rechtlichen Würdigung psychiatrischer Gutachten oblag im Kanton Bern ausschliess-<br />

lich den Justiz- <strong>und</strong> Gerichtsbehörden, respektive den Geschworenen. Wie bei der Anordnung von Begutachtungen<br />

lag die Definitionsmacht damit in den Händen medizinischer Laien. So paradox dies tönt:<br />

Wesentliche Etappen in Medikalisierungsprozessen waren demnach dem direkten Einfluss der Psychiater<br />

entzogen. Der Abschluss der Begutachtung durch die Sachverständigen bedeutete, dass die psychiatri-<br />

schen Deutungsangebote in juristische Entscheidungs- <strong>und</strong> Selektionsprozesse eingespiesen wurden, de-<br />

ren Ausgang nicht von vornherein gegeben war. Alle dabei beteiligten AkteurInnen verfügten über gewis-<br />

se, wenngleich je nach Position unterschiedliche Handlungskompetenzen. So konnten die Strafverfol-<br />

gungsbehörden entscheiden zwischen der Einstellung eines Verfahrens oder der Überweisung an das zu-<br />

ständige Gericht. Sowohl Staatsanwälte, als auch Verteidiger verfügten über Spielräume beim Stellen ihrer<br />

Anträge. Wie die Fälle von Christian Binggeli <strong>und</strong> Hans Rudolf W. zeigen, besassen die Angeklagten<br />

Handlungskompetenzen, die im Einzelfall den Prozessverlauf durchaus zu beeinflussen vermochten. Den<br />

Geschworenen stand dagegen die Entscheidung über die Beurteilung der Schuldfähigkeit zu. Sie konnten<br />

die Schlüsse der Gutachten <strong>und</strong> die Aussagen der Sachverständigen vor Gericht in diese oder jene Rich-<br />

tung auslegen. Die Rechtsinstitute der verminderten Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> der mildernden Umstän-<br />

den erlaubten ihnen aber auch, zwischen den Anträgen von Anklage <strong>und</strong> Verteidigung zu vermitteln. Der<br />

Kriminalkammer standen schliesslich die Begründung des Geschworenenspruchs <strong>und</strong> die Festsetzung des<br />

1093 StAB BB 15.4, Band 125, Verhandlung der Assisen gegen Christian B., 18. September 1918.<br />

1094 StAB BB 15.4, Band 104, Verhandlung der Assisen gegen August B., 28. Februar 1908.<br />

1095 StAB BB 15.4, Band 114, Verhandlung der Assisen gegen Marie G., 4. Juni 1913.<br />

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