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Psychiatrie und Strafjustiz

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wie «verbrecherische Geisteskranke» oder «Gewohnheitsverbrecher» abzielte. Auch die gemässigten Straf-<br />

rechtsreformer sahen in einer wachsenden Präsenz humanwissenschaftlicher Experten im Bereich des<br />

Strafrechts eine unabdingbare Voraussetzung, um die geforderte Individualisierung des Sanktionssystems<br />

zu realisieren. Eine partielle Medikalisierung des Strafrechts, die über die bisherige Begutachtungspraxis hinaus-<br />

ging, erschien ihnen als zentrales Element einer kriminalpolitischen Strategie, von der sie sich eine wir-<br />

kungsvolle «Bekämpfung des Verbrechens» <strong>und</strong> die Befriedigung der Sicherheitsbedürfnisse der moder-<br />

nen Verkehrs- <strong>und</strong> Klassengesellschaft erhofften.<br />

Die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> die Strafrechtsreform<br />

Auch Schweizer Juristen <strong>und</strong> Psychiater engagierten sich in der internationalen Strafrechtsreformbewe-<br />

gung. Ihnen kam der Umstand entgegen, dass seit den 1880er Jahren Bestrebungen zu einer Vereinheitli-<br />

chung des kantonalen Strafrechts bei der radikal-demokratischen Mehrheit auf B<strong>und</strong>esebene auf offene<br />

Ohren stiessen. Die schweizerische Strafrechtsreform war durch ihren Charakter als staats- <strong>und</strong> kriminalpoliti-<br />

sche Doppelreform geprägt, die entscheidend von Exponenten der direkt betroffenen Disziplinen – in erster<br />

Linie der Strafrechtswissenschaft, aber auch der <strong>Psychiatrie</strong> – vorangetrieben wurde. Strafrechtsreformern<br />

wie Carl Stooss oder Emil Zürcher war nicht nur der «Rechtswirrwarr» der kantonalen Strafgesetzgebung<br />

ein Dorn im Auge, wie ihre Fachkollegen im umliegenden Ausland konstatierten sie eine Ineffizienz der<br />

Strafrechtspflege namentlich gegenüber rückfälligen DelinquentInnen. Insbesondere Zürcher forderte zu<br />

Beginn der 1890er Jahre eine f<strong>und</strong>amentale Reform des Strafrechts im Sinne der Kriminalanthropologen,<br />

wobei er sich allerdings bewusst war, dass eine derart radikale Kriminalpolitik in der Schweiz kaum mehr-<br />

heitsfähig sein würde. Pragmatischer war der Ansatz von Stooss, der mit der 1888 gegründeten Schweizeri-<br />

schen Zeitschrift für Strafrecht eine Vernetzung der Strafrechtsreformer anstrebte <strong>und</strong> mit der interdisziplinären<br />

Ausrichtung der Zeitschrift auch Allianzen ausserhalb der Juristenschaft zu bilden versuchte.<br />

Die Bestrebungen der Schweizer Juristen, die Strafrechtseinheit- <strong>und</strong> -reform auf die politische Agenda zu<br />

setzen, erwiesen sich insofern als erfolgreich, als der B<strong>und</strong>esrat Stooss 1889 mit der Vorbereitung eines<br />

Strafrechtsentwurfs beauftragte <strong>und</strong> 1896 den Weg zur Schaffung einer Verfassungsgr<strong>und</strong>lage für die<br />

Rechtseinheit vorspurte.<br />

Der Vorentwurf zu einem Strafgesetzbuch, den Stooss 1893 vorlegte, beruhte auf einer pragmatischen Integration<br />

eines Systems sichernder Massnahmen in das herkömmliche Schuldstrafrecht. Solche sichernde Massnahmen,<br />

welche bislang vor allem im kantonalen Verwaltungsrecht zur Anwendung gelangt waren, erlaubten insti-<br />

tutionelle Zugriffe auf bestimmte Gruppen von StraftäterInnen wie «Gewohnheitsverbrecher», «liederli-<br />

che», «trunksüchtige» <strong>und</strong> geistesgestörte DelinquentInnen, die über das geltende Schuldstrafrecht hinaus-<br />

gingen. Der Vorentwurf legte zugleich den Rahmen fest, innerhalb dessen sich die Diskussionen über eine<br />

Medikalisierung kriminellen Verhaltens in der Schweiz künftig bewegen sollten. Nicht zuletzt aus Rück-<br />

sicht auf die politischen Mehrheitsverhältnisse hielt Stooss am strafrechtlichen Verantwortlichkeitsprinzip<br />

fest <strong>und</strong> bekräftigte dadurch die herkömmliche Aufgabenteilung zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>.<br />

Gleichzeitig sah er aber eine Erweiterung des medizinisch-psychiatrischen Tätigkeitsbereichs auf das neue Massnahmen-<br />

recht vor. Die Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen akzentuierte das strafrechtliche Normalitäts-<br />

dispositiv insofern, als sie bestimmte DelinquentInnengruppen einem Zugriff durch medizinische <strong>und</strong><br />

pädagogische Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungsmassnahmen unterwarf <strong>und</strong> für das Gros der «normalen»<br />

StraftäterInnen weiterhin eine Beurteilung aufgr<strong>und</strong> des individuellen Verschuldens vorsah.<br />

Stooss berief sich in seinen Vorentwurf explizit auf die Anliegen der Schweizer Psychiater. Diese hatten sich<br />

seit den 1880er Jahren intensiv mit strafrechtlichen Fragen beschäftigt <strong>und</strong> schalteten sich im Laufe der<br />

Strafrechtsdebatte wiederholt in den Gesetzgebungsprozess ein. Der psychiatrischen scientific community<br />

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