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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Wiederaufnahme der Debatte 1937/38<br />

Im Juni 1938, wenige Tage vor der Volksabstimmung über das Strafgesetzbuch, stellte die Konferenz der<br />

kantonalen Sanitätsdirektoren die Unterbringung geistesgestörter Straftäter erneut zur Diskussion. Bereits<br />

im Mai 1937 hatte der Schweizerische Verein für Straf-, Gefängniswesen <strong>und</strong> Schutzaufsicht über die Zusammen-<br />

arbeit von <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> <strong>Strafjustiz</strong> debattiert <strong>und</strong> dabei auch diese Problematik angeschnitten. 1292 Die<br />

Wiederaufnahme der seit dem Ersten Weltkrieg weitgehend eingeschlafenen Verwahrungsdebatte stand<br />

bereits im Zeichen der bevorstehenden Umsetzung des neuen Strafgesetzes. In zwei Referaten vertraten<br />

Walter Morgenthaler (1882–1965) <strong>und</strong> Paul Garnier vor den Sanitätsdirektoren die Anliegen der Schwei-<br />

zer Psychiater. Um die Position ihrer Kollegen abschätzen zu können, lancierten die beiden Psychiater –<br />

wie ihre Vorgänger 1904 – eine Umfrage bei den Direktoren von 33 psychiatrischen Anstalten. Gemäss<br />

dieser Umfrage befürworteten 25 der befragten Anstaltsdirektoren die Errichtung einer Spezialanstalt für<br />

gefährliche <strong>und</strong> verbrecherische Geisteskranke <strong>und</strong> Psychopathen für r<strong>und</strong> 160 Männer <strong>und</strong> 20 Frauen.<br />

Damit differenzierten sie erstmals nach den Geschlechtern. Für die Errichtung einer solchen Anstalt<br />

sprach in den Augen der konsultierten Psychiater die Entlastung der Irrenanstalten von störenden Insas-<br />

sInnen, die optimalen Sicherungsmöglichkeiten in einer Spezialanstalt <strong>und</strong> das Vermeiden einer Anstoss<br />

erregenden Vermischung mit unbescholtenen PatientInnen. Die Mehrzahl der Befragten befürwortete<br />

Annexe an Strafanstalten. Nur einer sprach sich für das herkömmliche Modell der Verteilung auf die be-<br />

stehenden Abteilungen, respektive für Annexe an Irrenanstalten aus. Aufgr<strong>und</strong> seiner Umfrage <strong>und</strong> unter<br />

Verweis auf die Umfrage von 1905 sprachen sich Morgenthaler <strong>und</strong> Garnier für eine Spezialanstalt aus,<br />

die Geisteskranke, störende «Psychopathen», geistesgestörte Sträflinge <strong>und</strong> störende Strafgefangene auf-<br />

nehmen sollte. Eine solche Anstalt hätte die Sicherung der Gesellschaft, die Entlastung der psychiatri-<br />

schen Anstalten <strong>und</strong> die sachgemässe Verwahrung <strong>und</strong> Behandlung der Eingewiesenen zum Zweck. Be-<br />

züglich der Art dieser speziellen Institution erachteten sie sowohl Annexe an Strafanstalten, als auch eine<br />

unabhängige Spezialanstalt gr<strong>und</strong>sätzlich für angemessen. Aufgr<strong>und</strong> des drohenden Widerstands Seitens<br />

der Strafanstaltsdirektoren zogen sie die Errichtung einer unabhängigen Anstalt vor. 1293<br />

Vor allem Garnier sah in der Errichtung einer solchen Spezialanstalt ein Potenzial für die Ausdifferenzie-<br />

rung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong>. Er plädierte für eine «fondation de véritables maisons de santé, réser-<br />

vées exclusivement aux psychopathes criminels, aux débiles mentaux, déséquilibrés, épileptiques, et confi-<br />

és entièrement à des aliénistes criminologistes.» Diese Anstalten würden zudem der Ausbildung von An-<br />

staltspersonal dienen. Kriminalisten <strong>und</strong> Psychiater hätten die Möglichkeit sich in einem «centre d’études<br />

et de perfectionnement» zu treffen. Das Vorbild für ein solches «centre de formation criminologiste» sah<br />

Garnier im Service d’anthropologie pénitentiaire in der belgischen Hauptstadt. 1294 Das belgische Loi de défense<br />

sociale vom 9. April 1930 verpflichtete die Justizbehörden, zweifelhafte Geisteszustände begutachten zu<br />

lassen, <strong>und</strong> sah in Belgien erstmals umfassend sichernde Massnahmen gegen geistesgestörte Straftäter <strong>und</strong><br />

«Gewohnheitsverbrecher» vor. Zum Vollzug des Gesetzes wurde an den Strafanstalten ein ganzes Netz<br />

von psychiatrischen Beobachtungsabteilungen eingerichtet. 1295 Der an der Konferenz der Sanitätsdirekto-<br />

ren in Aarau anwesende Direktor der Irrenanstalt Königsfelden, Arthur Kielholz (1879–1962), bezog sich<br />

in seinem Diskussionsvotum ebenfalls auf die Situation in Belgien. Im Gegensatz zu Garnier leitete er<br />

daraus aber die Forderung ab, Annexe an Strafanstalten <strong>und</strong> keine Zentralanstalt zu errichten. Einer sol-<br />

1292 Verhandlungen des Schweizerischen Vereins für Straf-, Gefängnisverein <strong>und</strong> Schutzaufsicht, 1937, 44-126.<br />

1293 Morgenthaler, 1938.<br />

1294 Garnier, 1938, 370 f.<br />

1295 Vgl. Vervaeck, 1935.<br />

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