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Psychiatrie und Strafjustiz

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Irrenanstalten zu entscheiden. 469 In einem zweiten Artikel räumte Meyer von Schauensee allerdings ein,<br />

dass «die Frage des Vorhandenseins einer Psychose <strong>und</strong> der Versetzung des Kranken in eine Irrenanstalt<br />

doch eine durchaus medizinisch-technische» sei. Gleichzeitig forderte er aber eine «scharfe Abgrenzung<br />

von geistiger Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit». 470 Der Luzerner Richter wandte sich damit gegen eine Auswei-<br />

tung des psychiatrischen Kompetenzanspruchs auf ein Übergangsgebiet zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ge-<br />

s<strong>und</strong>heit. Nur scharfe <strong>und</strong> auch für medizinische Laien erkennbare Grenzziehungen zwischen beiden<br />

Bereichen vermochten in seinen Augen die psychiatrisch Deutungsmacht in Schranken zu halten. Kurz<br />

nach dem Erscheinen des ersten Artikels replizierte Forel in der Zeitschrift, wobei er die alleinige Fachkompetenz<br />

der Psychiater bei der Beurteilung von Geisteszuständen hervorhob <strong>und</strong> die «inkompetenten<br />

Urteile» von medizinischen Laien geisselte. Anstaltseinweisungen müssten durch spezielle Kommissionen<br />

erfolgen, denen vor allem «erfahrene Fachpersonen, d.h. Irrenärzte» angehörten. Zudem betonte Forel die<br />

Existenz von Geistesstörungen, die der Laie nicht zu erkennen vermochte. 471 Im Rahmen seiner öffentli-<br />

chen Polemik gegen den von Stooss vorgelegten Strafrechtsentwurf reaktivierte Meyer von Schauensee<br />

seine Kritik am vermeintlichen Versuch der Psychiater, kriminelles Verhalten zu medikalisieren <strong>und</strong> so<br />

ihre Kompetenzen auf Kosten der Justiz auszuweiten. Gerade in Fällen, wo die psychiatrischen Experten<br />

keine eigentlichen Geisteskrankheit, sondern nur «abnorme Zustände» festzustellen vermochten, sollte, so<br />

Meyer von Schauensee, am Primat der Bestrafung über die medizinische Behandlung <strong>und</strong> Versorgung<br />

festgehalten werden. Auch hier wandte sich Meyer von Schauensee gegen die Preisgabe der aus der ersten<br />

Jahrh<strong>und</strong>erthälfte stammenden Engführung von juristischem Schuld- <strong>und</strong> medizinischem Krankheitsbeg-<br />

riff. 472 Eine weitere Fortsetzung fand die Kontroverse zwischen Meyer von Schauensee <strong>und</strong> Forel 1902 in<br />

der Neuen Zürcher Zeitung. Wie bei den «Grenzdisputen» der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ging es<br />

dabei um die Frage, ob Juristen oder Psychiater über die Frage der Zurechnungsfähigkeit zu entscheiden<br />

hätten, respektive darüber ob die Schlussfolgerungen der psychiatrischen Sachverständigen für die Richter<br />

bindende Wirkung haben sollten. Trat Meyer von Schauensee für eine freie Würdigung der Gutachten<br />

durch das Gericht ein, so verlangte Forel eine gesetzliche Bindung des Richters an die eingeholten Gut-<br />

achten. 473<br />

Forels <strong>und</strong> Meyer von Schauensees Kontroverse war letztlich Ausdruck zweier konkurrierender Strategien<br />

zur Bewältigung kriminellen Verhaltens. Auf der einen Seite vertrat der Luzerner Richter die Position des<br />

klassischen Schuldstrafrechts, das in kriminellen Handlungen in erster Linie ein juristisches Problem sah,<br />

das mit den Mitteln der strafrechtlichen Repression zu lösen war. Auf der andern Seite machte der Psychi-<br />

ater Forel den Anspruch seiner Disziplin geltend, kriminelles Verhalten mittels medizinischer Deutungs-<br />

muster, Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepten zu bewältigen. Zusätzliches Gewicht bekam die Kon-<br />

troverse durch den Umstand, dass es dabei zugleich um die Kompetenzverteilung zwischen Juristen <strong>und</strong><br />

Mediziner ging.<br />

Es wäre indes voreilig anzunehmen, dass es sich bei diesen gegenläufigen Strategien <strong>und</strong> Kompetenzan-<br />

sprüchen primär um einen Konflikt zwischen Psychiatern <strong>und</strong> Juristen gehandelt hat. Vielmehr zeigen die<br />

Auseinandersetzungen im Umfeld der schweizerischen Strafrechtsreform, dass die Konfliktlinie zwischen<br />

den Anhängern <strong>und</strong> Gegnern einer teilweisen Medikalisierung kriminellen Verhaltens quer durch die<br />

469 Meyer von Schauensee, 1890, 58. Zur deutschen Irrenreformbewegung: Goldberg, 2001; Schindler, 1991, 141-151; Dieckhöfer,<br />

1984.<br />

470 Meyer von Schauensee, 1890a, 505, 507.<br />

471 Forel, 1891; Forel relativierte seine Kritik nach Meyer von Schauensees zweiten Beitrag teilweise: Forel, 1891, 510.<br />

472 Meyer von Schauensee, 1897.<br />

473 Vgl. NZZ, 4. Juni 1902; NZZ, 12. Juni 1902; NZZ, 4. Juni 1902 (Morgenausgabe); NZZ, 18. Juni 1902; NZZ, 23. Juni 1902; auf<br />

diese Debatte verweist ebenfalls: Gschwend, 1996, 501-505.<br />

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