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Psychiatrie und Strafjustiz

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von Gottfried A. Zwar verneinte das Gutachten, dass der übermässige Alkoholkonsum eine direkte Folge<br />

einer Gehirnkrankheit sei. Die Sachverständigen betonten allerdings, dass eine «neuropathische Konstitu-<br />

tion» bei Gottfried A. die Basis für seinen chronischen Alkoholismus abgeben würde. Es müsse von einer<br />

«Wechselwirkung von Psychopathie <strong>und</strong> Alkoholismus» ausgegangen werden. Die alltägliche Wahrneh-<br />

mung dagegen sah in einem solchen Trinkverhalten hauptsächlich ein moralisches Laster, das die Arbeits-<br />

fähigkeit vermindere <strong>und</strong> Gottfried A. zeitweise zu einem gewalttätigen <strong>und</strong> unangenehmen Mann werden<br />

liess.<br />

Fazit: Psychiatrische Ausdeutungen von «Gemeingefährlichkeit»<br />

Die untersuchten Fallbeispiele zeigen, dass die psychiatrische <strong>und</strong> lebensweltliche Perspektive auf diesel-<br />

ben Delinquenten zwar unterschiedlichen Mustern folgte, dass sie sich allerdings dennoch in verschiede-<br />

nen Aspekten überlappten. Solche Überschneidungen machen einmal mehr deutlich, dass in Bezug auf die<br />

Beurteilung kriminellen Verhaltens die These eines spezifischen «Blick des Irrenarztes» (Regina Schulte),<br />

der sich von Alltagsbeobachtungen diametral unterschiedet, nuanciert werden muss. So zeigten die Perso-<br />

nen, die mit Fritz W. oder Gottfried A. täglich zu tun hatten, durchaus eine geschärfte Sensibilität für<br />

deren Normabweichungen oder gewalttätiges Verhalten. Die Umgebung hielt Fritz W. für «nicht normal»<br />

<strong>und</strong> erachtete sogar eine Einweisung in die Zwangsarbeitsanstalt als angemessen, um ihn zu einer ordent-<br />

lichen Beschäftigung zu zwingen. Die verschiedenen Aussagen über Fritz W. zeigen aber auch, dass solche<br />

alltäglichen Wahrnehmungen häufig einer diffusen Ambivalenz von Respekt <strong>und</strong> Abscheu verhaftet blie-<br />

ben. Fritz W. <strong>und</strong> Gottfried A. waren denn auch lange vor dem Begehen des eingeklagten Delikts in lebensweltliche<br />

Konflikte verwickelt. Diese waren ebenfalls von verschiedenen Formen von Gewalt beglei-<br />

tet. Obwohl in beiden Fällen die Umgebung Bescheid über die Vorstrafen wusste, blieben beide Männer<br />

bis zur Begehung neuer Straftaten teilweise in die Dorfgemeinschaft <strong>und</strong> an ihrem Arbeitsplatz integriert.<br />

Wenngleich die Sachverständigen in ihre Gutachten Elemente aufnahmen, die ebenfalls bei lebensweltli-<br />

chen Beurteilungen eine wichtige Rolle spielten – etwa die Fähigkeit, den Lebensunterhalt durch regelmäs-<br />

sige <strong>und</strong> gewissenhafte Arbeit zu bestreiten, oder die Missbilligung übermässigen Alkoholkonsums – stellten<br />

sie solche Alltagsbeobachtungen dennoch in neue Sinnzusammenhänge. Dabei standen schliesslich<br />

den oft ambivalenten <strong>und</strong> diffusen Alltagsbeobachtungen stringente Deutungsversuche gegenüber, die aus<br />

spezifischen Momenten wie einer mangelhaften Selbstbeherrschung oder einem pathologischen Mangel an<br />

«moralischem Sinn» die Rückfallswahrscheinlichkeit von StraftäterInnen prognostizierten. Dazu stellten<br />

die Psychiater weniger auf eine Diagnose ab, sondern entwickelten – wie in den Fälle von Ernst S. <strong>und</strong><br />

Fritz W. – Erklärungsmodelle, in deren Zentrum die Vorstellung einer unveränderlichen pathologischen<br />

Individualität stand, die vergangenes <strong>und</strong> künftiges Denken, Fühlen <strong>und</strong> Wollen gleichermassen zu erklä-<br />

ren vermag. Erst der Rückgriff auf ein solches biologisches Substrat erlaubte es, Aussagen über das zu<br />

erwartende künftige Verhalten von DelinquentInnen zu machen. In Alltagsbeobachtungen spielten dage-<br />

gen solche Zukunftshorizonte eine deutlich geringere Bedeutung. Die Drohungen von Gottfried A. wur-<br />

den beispielsweise bis zur Begehung seines Delikts nicht weiter beachtet <strong>und</strong> auch im Fall von Fritz W.<br />

blieb letztlich sein bisheriges Handeln in einem sozialen Kontext entscheidend. Durch ihren Anspruch,<br />

von vergangenem auf künftiges Verhalten zu schliessen, unterschieden sich psychiatrische Deutungskon-<br />

struktionen deutlich von lebensweltlichen Interpretationen normabweichenden <strong>und</strong> straffälligen Verhal-<br />

tens. Dies hatte im Gegenzug zur Folge, dass das Handeln <strong>und</strong> die Motive von DelinquentInnen weitgehend<br />

aus ihrem sozialen Kontext herausgelöst <strong>und</strong> auf eine unveränderliche <strong>und</strong> deshalb berechenbare<br />

«abnorme» Individualität reduziert wurden. Mit solchen Deutungen kamen die Sachverständigen den Er-<br />

wartungen der Justizbehörden nach, die zur Anwendung von Artikel 47 des Strafgesetzbuchs auf plausibel<br />

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