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Psychiatrie und Strafjustiz

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liger Überarbeitung tragen, gehören wie Briefe, Gewichtstabellen, Testbogen, Zeichnungen etc. als Beila-<br />

gen zu den eigentlichen Krankengeschichten. Diese bestehen in mehr oder weniger regelmässigen Eintra-<br />

gungen der behandelnden Ärzte über das Befinden <strong>und</strong> Verhalten der PatientInnen in der Anstalt sowie<br />

über Behandlungsmassnahmen. Solche Krankengeschichten bildeten in vielen Fällen eine wichtige Infor-<br />

mationsgr<strong>und</strong>lage für die mit den Begutachtungen betrauten Sachverständigen. Krankengeschichte <strong>und</strong><br />

Beilagen bilden die eigentlichen Krankenakten. In einigen Fällen befinden sich in Krankenakten zudem<br />

stichwortartige Protokolle der Unterredungen der Sachverständigen mit den ExplorandInnen. Wörtliche<br />

Protokolle dieser Gespräche, wie sie aus der deutschen <strong>Psychiatrie</strong> bekannt sind, finden sich dagegen in<br />

den untersuchten Krankenakten nicht. 768 Die vorliegende Untersuchung bedient sich der Krankenakten<br />

primär als Mittel, um an eingestellte Begutachtungsfälle heranzukommen. Dementsprechend werden die<br />

selbstverständlich ebenfalls gesichteten Krankengeschichten lediglich punktuell zur Analyse beigezogen. 769<br />

Kern der folgenden Untersuchung bilden Analysen der eigentlichen psychiatrischen Gutachten, die im<br />

Untersuchungszeitraum in der Regel zwischen zehn <strong>und</strong> vierzig Seiten umfassten. Psychiatrische Gutach-<br />

ten können auf verschiedenen Ebenen als Quellen herangezogen werden. 770 Sie können als rein formale<br />

Texte betrachtet werden, die sich hinsichtlich ihrer Form <strong>und</strong> ihres Aufbaus, als ein Produkt einer spezifi-<br />

schen Informationsverarbeitungspraxis präsentieren. Auf einer zweiten Ebene geben die Gutachten, ergänzt<br />

durch andere Aktenstücke, Aufschluss über die institutionellen Mechanismen, die zur Anordnung von Begut-<br />

achtungen geführt haben. Sie dokumentieren dadurch ansatzweise Definitionsprozesse, die den psychiatri-<br />

schen Sinnbildungsprozessen vorgelagert waren. Auf einer dritten Ebene, auf der die historische Diskurs-<br />

analyse ansetzt, dokumentieren sie die Produktion spezifischer Deutungen kriminellen Verhaltens durch die psychiat-<br />

rischen Sachverständigen <strong>und</strong> ermöglichen Rückschlüsse auf die verwendeten Deutungsmuster <strong>und</strong> die diesen<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden Normvorstellungen. Auf einer vierten Ebene erlauben die Gutachten beschränkte<br />

Einblicke in die sozialen Lebenswelten, in denen Straftaten begangen wurden, <strong>und</strong> in die Alltagsvorstellungen<br />

der beteiligten AkteurInnen. Diese Ebene wird allerdings im Rahmen dieser Arbeit nur soweit angeschnit-<br />

ten, als es im Hinblick auf die übergeordnete Fragestellung sinnvoll scheint. Keine Angaben enthalten<br />

psychiatrische Gutachten dagegen über die Aneignung psychiatrischer Deutungsmuster in der Justizpraxis. Solche<br />

Angaben müssen vielmehr den Untersuchungsakten, den Urteilen oder allenfalls den Krankenakten ent-<br />

nommen werden.<br />

7.2 Aufträge <strong>und</strong> Anlässe zur Begutachtung<br />

Die historische Kriminalitätsforschung hat darauf aufmerksam gemacht, dass Strafverfahren als fortge-<br />

setzte Selektionsprozesse funktionieren, in deren Verlauf sukzessive zwischen normkonformem <strong>und</strong> devi-<br />

antem Verhalten, zwischen legalen <strong>und</strong> illegalen Normabweichungen unterschieden wird. Diese Zuschrei-<br />

bungsprozesse, welche Gerd Schwerhoff treffend als «ein sich ständig verjüngender Trichter» bezeichnet<br />

hat, verlaufen von der Entdeckung eines Verbrechens bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung über ver-<br />

schiedene Selektionsinstanzen. 771 Die Anordnung einer psychiatrischen Begutachtung stellt dabei einen<br />

Selektionsfilter unter anderen dar, dessen Funktion es ist, die Justizbehörden mit Entscheidungsgr<strong>und</strong>la-<br />

gen zur Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit <strong>und</strong> einer allfälligen Verwahrungs- oder Ver-<br />

sorgungsbedürftigkeit zu versorgen. Die Anordnung einer psychiatrischen Begutachtung ist in jedem Fall<br />

ein Entscheid, der weitreichende Konsequenzen auf den weiteren Verlauf eines Strafverfahrens haben<br />

768 Vgl. Lenk/Kaever, 1997; Pozsár/Farin, 1995.<br />

769 Aus diesem Gr<strong>und</strong> wird hier auf eine ausführliche Diskussion des Quellenwerts von Krankenakten verzichtet; vgl. Zuppiger,<br />

1999, 27-29; Radkau, 1997; Wüthrich, 1995, 39-42; Amstrong, 1987.<br />

770 Vgl. Wecker, 1997, 192-194; Burghartz, 1995; Schulte, 1989, 25-28.<br />

771 Schwerhoff, 1999, 13, Kunz, 1998, 245.<br />

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