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Psychiatrie und Strafjustiz

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geistiger Normalität <strong>und</strong> Leistungsfähigkeit stehend erscheinen lassen». 272 Wie Krafft-Ebing konzeptuali-<br />

sierte er damit einen Übergangsbereich zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit, dessen Bezugspunkt eine<br />

imaginäre psychische Durchschnittsnorm darstellte. Koch unterschied zwischen angeborenen, «zumeist in<br />

hereditären <strong>und</strong> überhaupt in originären Verhältnissen» begründeten <strong>und</strong> erworbenen «psychopathischen<br />

Minderwertigkeiten», die er nach dem Störungsgrad in drei Gruppen unterteilte. Das Konzept der «psy-<br />

chopathischen Minderwertigkeiten» fokussierte zunächst nur am Rande auf kriminelles Verhalten, den-<br />

noch war sich Koch dessen Konsequenzen für die forensische Praxis sehr wohl bewusst. 1891 forderte er<br />

die Aufnahme einer verminderten Zurechnungsfähigkeit ins Reichsstrafgesetzbuch <strong>und</strong> kritisierte die<br />

strikte Trennung von Schuldfähigkeit <strong>und</strong> Unzurechnungsfähigkeit im geltenden Recht. Zudem verlangte<br />

er die Einrichtung spezieller «Bewahr- Schutz- <strong>und</strong> Besserungsanstalten» für «angeboren psychopathisch<br />

Degenerierte». 273 1894 integrierte Koch schliesslich Lombrosos Verbrechertypus in das Konzept der<br />

«psychopathischen Minderwertigkeit». 274 Auch wenn Kochs Klassifikation kaum auf Resonanz stiess,<br />

stellten seine Arbeiten doch einen wichtigen Referenzpunkt für die Weiterentwicklung des<br />

Psychopathiekonzepts durch Kraepelin dar. 275<br />

Kraepelin verwendete den Begriff der «psychopathischen Zustände» erstmals 1896 in der fünften Auflage<br />

seines Lehrbuchs als Gruppentitel, wobei er darunter eine «dauernd krankhafte Verarbeitung der Lebens-<br />

reize» verstand. Solche «krankhaft angelegten Persönlichkeiten» zeigten «Unzweckmässigkeiten des Den-<br />

kens, Fühlens oder Handelns». Kraepelin unterschied 1896 zwischen vier Arten von «psychopathischen<br />

Zuständen»: «constitutionelle Verstimmungen», «Zwangsirresein», «impulsives Irresein» <strong>und</strong> «conträre<br />

Sexualempfindung». 276 Das Lehrbuch von 1887 hatte die beiden letzten Gruppen noch zusammen mit<br />

verschiedenen Schwachsinnsformen unter der Kategorie der «psychischen Entwicklungsanomalien» rubri-<br />

ziert. Kraepelin hatte dabei zwischen «Schwachsinn», der sich primär auf intellektuellem Gebiet äussere,<br />

einem «moralischen» sowie einem «impulsiven Irresein» unterschieden. Wie Krafft-Ebing sah auch Krae-<br />

pelin im «moralischen Irresein» eine «Störung im Bereich des Gemüts», die sich in asozialem Verhalten<br />

äussere. Das «impulsive Irresein» bewirke dagegen eine «geringere Widerstandskraft gegenüber plötzlich<br />

aufsteigenden Antrieben». Zu dieser Gruppe zählte Kraepelin ebenfalls die früheren «Monomanien». 277<br />

Die Gruppen des «moralischen» <strong>und</strong> «impulsiven Irresein» stellten gleichsam den Kern des späteren «psy-<br />

chopathischen Persönlichkeit» dar.<br />

Über die verschiedenen Auflagen des Lehrbuchs hinweg war Kraepelin bestrebt, die Gruppe der «psycho-<br />

pathischen Zuständen» definitiv von den Schwachsinnsformen, abzugrenzen, <strong>und</strong> gleichzeitig jene Zu-<br />

stände, die primär kriminelles Verhalten betrafen, in einer eigenen Gruppe zusammenzufassen. Dazu löste<br />

er 1896 das «impulsive Irresein» <strong>und</strong> 1904 das «moralische Irresein» aus der Gruppe der «Entwicklungs-<br />

hemmungen» heraus. In der Auflage von 1904 machte er zudem erstmals eine graduelle Unterscheidung<br />

zwischen «originären Krankheitszuständen» <strong>und</strong> «psychopathischen Persönlichkeiten». Was diese Gruppen<br />

trennte, war lediglich der unterschiedliche zeitliche Verlauf der Störungen. 278 Ein Gr<strong>und</strong> für die neue<br />

Differenzierung dürfte jedoch im Umstand zu suchen sein, dass sie es erlaubte, «psychopathische Zustän-<br />

de», die primär kriminelles Verhalten betrafen, von respektableren Formen der (psychischen) Devianz wie<br />

Nervosität oder Zwangsstörungen zu trennen. Unter der Gruppe der «psychopathischen Persönlichkeit»<br />

272 Koch, 1888, 35.<br />

273 Koch, 1891/93, 133-145.<br />

274 Koch, 1894, 21, 34.<br />

275 Vgl. Kraepelin, 1896, 757; Schneider, 1940, 16.<br />

276 Kraepelin, 1896, 756-788.<br />

277 Kraepelin, 1887, 523-529.<br />

278 Werlinder, 1978, 93.<br />

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