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Psychiatrie und Strafjustiz

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Diese disziplinäre Aufgabenteilung geriet seit den 1870er Jahren jedoch zunehmend unter Beschuss. So-<br />

wohl Exponenten der sich spezialisierenden <strong>Psychiatrie</strong>, als auch reformorientierte Juristen kritisierten die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen des geltenden Schuldstrafrechts. Diese europaweite Strafrechtskritik war das Ergebnis eines Lernpro-<br />

zesses, in dessen Verlauf sich neue kriminalpolitische Leitbilder herauskristallisierten. Anstösse zu diesem<br />

Lernprozess kamen namentlich aus zwei Richtungen. Erstens erweiterte eine neue Generation psychiatri-<br />

scher Deutungsmuster das psychiatrische Blickfeld auf ein unscharf abgegrenztes Übergangsgebiet zwi-<br />

schen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit, zu dem Formen von Devianz gezählt wurden, die zuvor psychiatrisch<br />

kaum erfasst worden waren. Die neuen Deutungsmuster erlaubten den psychiatrischen Sachverständigen,<br />

die Willensfreiheit von ExplorandInnen zu problematisieren, die nicht als geisteskrank im eigentlichen<br />

Sinn galten. In Frage gestellt wurde dadurch die bisherige Praxis, Exkulpationen <strong>und</strong> Strafminderungen<br />

auf Ausnahmefälle zu beschränken. Psychiater wie Cesare Lombroso postulierten in den 1870er Jahren<br />

schliesslich die Existenz eines «geborenen Verbrechers», der gänzlich durch seine «atavistische» Persön-<br />

lichkeitsstruktur determiniert sei. Wenngleich Lombrosos Verbrechertypus umstritten blieb, vermochten<br />

sich Deutungsmuster wie das Psychopathiekonzept, das kriminelles Verhalten als blosses Epiphänomen<br />

einer vererbten «abnormen Konstitution» erscheinen liess, bis zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende in der forensisch-<br />

psychiatrischen Begutachtungspraxis weitgehend durchzusetzen. Mit der forcierten Pathologisierung kriminellen<br />

Verhaltens ging seitens der <strong>Psychiatrie</strong> die Forderung einher, das Strafrecht im Sinne eines medikalisierten<br />

Massnahmenrechts umzugestalten. Zweitens machte sich seit den 1870er Jahren unter führenden Juristen<br />

<strong>und</strong> Strafvollzugsbeamten eine zunehmende Ernüchterung über die Fähigkeit der bürgerlichen Straf-<br />

rechtspflege breit, kriminelles Verhalten wirkungsvoll zu bekämpfen. Namentlich im Zusammenhang mit<br />

steigenden Rückfälligkeitsquoten artikulierten sich die wachsenden Sicherheitsbedürfnisse der gesellschaft-<br />

lichen Eliten. Angesichts dieser zunehmenden Verunsicherung lieferten psychiatrische Deutungsmuster<br />

nicht nur plausible Erklärungen für das Scheitern der bisherigen Kriminalpolitik, sondern eröffneten auch<br />

neue Strategien zur Bewältigung abweichenden <strong>und</strong> kriminellen Verhaltens.<br />

Ergebnis dieses Lernprozesses war der Entwurf des Leitbilds einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbekämpfung, das ein<br />

humanwissenschaftliches Strafwissen über die «Natur des Verbrechers» mit medizinisch-psychiatrischen<br />

Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepten kombinierte. Als Vorreiter einer internationalen Strafrechtsreform-<br />

bewegung fungierten die italienischen Kriminalanthropologen, die seit den 1870er Jahren für eine gänzliche<br />

Preisgabe des Schuldprinzips <strong>und</strong> den Ersatz der herkömmlichen Strafen durch ein Massnahmensystem<br />

eintraten, das eine umfassende <strong>und</strong> nicht durch das Legalitätsprinzip begrenzte Kriminalitätsprophylaxe<br />

erlauben sollte. Voraussetzung für die Realisierung des neuen Strafparadigmas war eine Integration human-<br />

wissenschaftlichen Expertenwissens ins Strafrecht, die weit über die bisherige Begutachtungspraxis hinausging.<br />

Bezugspunkt dieses Expertentums sollte nicht mehr die obsolet gewordene Schuldfrage, sondern Voll-<br />

zugsfragen bilden, galt es in den Augen der Kriminalanthropologen doch, einzelne DelinquentInnen im<br />

Hinblick auf ihre «Gemeingefährlichkeit» zu klassifizieren <strong>und</strong> einem adäquaten Massnahmenvollzug zu-<br />

zuführen. Dadurch wurde erstmals nicht mehr nur eine Minderheit, sondern das Gros der StraftäterInnen<br />

zum Objekt eines humanwissenschaftlichen Strafwissens.<br />

Ausserhalb Italiens versuchten gemässigte Strafrechtsreformer den strafrechtlichen Paradigmawechsel in<br />

justiziable Bahnen zu lenken. Die in der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung zusammengeschlossenen<br />

Reformer nahmen denn auch Abstand von einer prinzipiellen Infragestellung des Schuldstrafrechts <strong>und</strong><br />

begnügten sich stattdessen mit der Formulierung einer regulativen Kriminalpolitik, die repressive <strong>und</strong> kurative<br />

Elemente kombinierte. Ziel war, das herkömmliche Strafrechts um ein System sichernder Massnahmen zu<br />

ergänzen, das auf die Besserung, Heilung oder «Unschädlichmachung» einzelner DelinquentInnengruppen<br />

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