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Psychiatrie und Strafjustiz

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mantik war nicht nur prinzipieller sondern auch praktischer Natur. So sahen sich viele psychiatrische<br />

Sachverständige im Justizalltag vor die Aufgabe gestellt, in Anlehnung an die kantonale Gesetzgebung<br />

explizit das Vorhandensein oder Fehlen der «Willensfreiheit» beurteilen zu müssen – eine Aufgabe, die<br />

vielen Psychiatern nicht mit dem Selbstverständnis eines in naturwissenschaftlichen Kategorien denken-<br />

den Experten vereinbar erschien. 531<br />

Die Bestrebungen der Schweizer Irrenärzte gingen folglich dahin, einen «modernen Begriff» an die Stelle<br />

der in ihren Augen obsoleten Willensfreiheit zu setzen. Wie von Speyr in seinem Referat von 1893 beton-<br />

te, sollte es dabei aber keineswegs darum gehen, das Kriterium der Zurechnungsfähigkeit an sich abzu-<br />

schaffen, wie es die Befürworter einer radikalen Kriminalpolitik forderten: «Die Praxis verlangt heute noch<br />

die Unterscheidung zwischen einem freien <strong>und</strong> einem geb<strong>und</strong>enen Willen» 532 Was die Umschreibung die-<br />

ser Unterscheidung anbelangte, präsentierte von Speyr in Anlehnung an die bestehende Gesetzgebung<br />

zwei Möglichkeiten: «Wir können zwei Gruppen von Definitionen unterscheiden: die eine erklärt allge-<br />

mein psychologisch für straflos, wer unzurechnungsfähig ist, keinen freien Willen hat, sich nicht selber<br />

bestimmen vermag, den freien Gebrauches der Vernunft beraubt, die Tragweite oder Bedeutung seiner<br />

Handlungen nicht ermessen kann, des Unterscheidungsvermögens usw., eventuell, wer mehrere dieser<br />

Eigenschaften nicht besitzt. Die andere Gruppe zählt einfach Zustände auf, worin Straflosigkeit anzu-<br />

nehmen ist, wie Geisteskrankheit, Schlaftrunkenheit usw.». 533 Von Speyr unterschied damit eine psychologi-<br />

sche Definition, die sich auf allgemeine psychologische Kriterien stützte, <strong>und</strong> eine medizinische Definition der<br />

Zurechnungsfähigkeit, die sich an verschiedenen Geisteszuständen respektive medizinischen Diagnosen<br />

orientierte. Von Speyr machte zudem klar, dass die Wahl zwischen diesen Definitionen keineswegs aka-<br />

demischer Natur war, sondern die psychiatrische Sachverständigentätigkeit unmittelbar beeinflussen wür-<br />

de. Zur Wahl stand – wiederum systemtheoretisch betrachtet – die Art <strong>und</strong> Weise wie die Wissensvermitt-<br />

lung zwischen den Bezugssystemen <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> <strong>Strafjustiz</strong> künftig erfolgen sollte. Das Beibehalten<br />

psychologischer Kriterien hätte demnach bedeutet, dass die psychiatrischen Sachverständigen weiterhin<br />

gezwungen gewesen wären, Gutachten unter Verwendung abstrakter psychologische Begriffe wie der<br />

Willensfreiheit abzugeben. Bei der Aufnahme einer medizinischen Definition in das künftige Strafgesetz-<br />

buch hätten sich dagegen mit dem Feststellen eines blossen Krankheitsbef<strong>und</strong>s begnügen können. 534<br />

Angesichts der Widerstände vieler Psychiater gegen die juristische Willenssemantik war für von Speyr klar,<br />

dass vom Standpunkt der Ärzte eine rein medizinische Definition der Zurechnungsfähigkeit «unbedingt»<br />

vorzuziehen sei. Diese lasse die psychiatrischen Sachverständigen im Gegensatz zu einer psychologischen<br />

Definition «in ihrem Gebiete». Der Vorschlag, den die Irrenärzte in Chur auf Antrag ihrer Kommission<br />

einstimmig verabschiedeten, lautete denn auch kurz <strong>und</strong> bündig: «Wer zur Zeit der Tat geisteskrank oder<br />

blödsinnig oder bewusstlos war, ist nicht strafbar.» 535 Da Stooss von den Irrenärzten bereits im Vorfeld<br />

der Churer Versammlung hinzugezogen worden war <strong>und</strong> die dort gefassten Beschlüsse gebilligt hatte, war<br />

es durchaus konsequent, dass der Vorentwurf von 1893 den Vorschlag der Irrenärzte wörtlich übernahm.<br />

Stooss bezeichnete dies in seinen Erläuterungen als Entgegenkommen gegenüber den Bedürfnissen der<br />

Psychiater. Gleichzeitig erhoffte er sich von einer medizinischen Definition auch eine Entschärfung des<br />

Streits zwischen deterministischen <strong>und</strong> indeterministischen Positionen: «Der entschiedene Determinist –<br />

<strong>und</strong> die hervorragendsten Psychiater bekennen sich zum Determinismus – wird die Freiheit der Willens-<br />

531 Glaser, 1901, 366.<br />

532 Speyr, 1894, 185.<br />

533 Speyr, 1894, 185.<br />

534 Vgl. Gretener, 1897, 17-20.<br />

535 BAR E 4110 (A) -/42, Band 21, Protokoll der Versammlung des Vereins der Schweizer Irrenärzte in Chur am 22. u. 23. Mai<br />

1893 (siehe Anhang 1).<br />

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