13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

désordre intellectuel ou moral; le meurtre est entraîné par une puissance irrésistible, par un entraînement<br />

qu’il ne peut vaincre, par une impulsion aveugle [...]; sans intérêts, sans motifs, sans égarement, à un acte<br />

aussi atroce et aussi contraire aux lois de la nature.» 211 Mit dem Deutungsmuster der monomanie instinctive<br />

liessen sich künftig Tötungsdelikte, deren Beweggründe nicht anders zu begreifen waren, psychiatrisch<br />

erfassen. Das einzig erkennbare Zeichen einer solchen Geistesstörung blieb dann die monströse Tat<br />

selbst.<br />

Die zentrale Bedeutung der neuen Deutungsmuster für die forensisch-psychiatrische Praxis lag darin, dass<br />

sie den Ärzten erlaubten ihre Kompetenzansprüche mit neuen Argumenten zu begründen. So warf<br />

Georget 1825 der französischen Justiz vor, in mehreren Fällen vorhandene Geistesstörungen der Ange-<br />

klagten übersehen <strong>und</strong> diese zu Unrecht verurteilt zu haben. So habe etwa der Winzer Léger, der im Au-<br />

gust 1823 ein 12jähriges Mädchen vergewaltigt, ermordet <strong>und</strong> sich dessen Herz einverleibt hatte <strong>und</strong> vom<br />

Schwurgericht Versailles zum Tode verurteilt worden war, in der Tat an einer monomanie homicide gelitten<br />

<strong>und</strong> hätte für seine Tat nicht zur Rechenschaft gezogen werden dürfen. Ähnlich wie Büchner <strong>und</strong> Fried-<br />

reich in Bezug auf den Fall Woyzeck suggerierte Georget seiner Leserschaft das Vorhandensein einer ganzen<br />

Reihe von «Justizskandalen», deren Wiederholung nur durch eine verstärkte Berücksichtigung der<br />

ärztlichen Sachkompetenz verhindert werden könne. Bereits ein Jahr nach Georgets Intervention zeigte<br />

sich die französische Justiz bereit, im Fall des Dienstmädchens Cornier, das das Kind seiner Dienstherrin<br />

erdrosselt hatte, auf die neuen Deutungsangebote der Psychiater einzugehen <strong>und</strong> die Existenz einer<br />

schuldausschliessenden monomanie homicide anzuerkennen. 212 Der Deutungsanspruch der <strong>Psychiatrie</strong>ärzte<br />

beschränkte sich aber bald nicht mehr auf spektakuläre <strong>und</strong> scheinbar gegen die menschliche Natur ver-<br />

stossende Mordfälle, sondern weitete sich auf weitere Delikte aus. Bis um die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

bevölkerte ein ganzes Bündel von Spezialmanien wie Pyromanie oder Kleptomanie die psychiatrische<br />

Krankheitslehre. 213 Solche Spezialmanien äusserten sich in einem isolierten Trieb, der auf das Begehen<br />

eines ganz bestimmten Delikts fixiert war.<br />

Die Behauptung einer isolierten Schädigung des Willens stiess bei Kritikern des ärztlichen Kompetenzan-<br />

spruchs auf grosse Skepsis. So entzündete sich die erwähnte Polemik Regnaults in unmittelbarem An-<br />

schluss an Georgets Reaktivierung des Justizskandal-Topos, <strong>und</strong> auch Clarus, der Gutachter Woyzecks,<br />

sah sich bemüssigt, das Vorhandensein von «instinktartigen Antrieben» explizit zu verneinen. 214 In<br />

Deutschland unterzog vor allem der Mediziner Adolph Christian Henke (1775–1843) die Lehre der «Ma-<br />

nie ohne Delirium» einer eingehenden Kritik. In seinem 1812 erschienenen Lehrbuch der gerichtlichen Medizin<br />

befürchtete er, dass das neue Krankheitsbild zu einer laxen Haltung gegenüber StraftäterInnen führen<br />

müsse. Die von Pinel erwähnten Fälle würden sich zudem problemlos andern einschlägigen Krankheits-<br />

bildern zuordnen lassen. 215 In die gleiche Richtung wies die Argumentation Heinroths, der darauf bestand,<br />

dass der menschliche Wille gr<strong>und</strong>sätzlich fähig sei, Anreizen zu Verbrechen <strong>und</strong> Sünde standzuhalten:<br />

«Der freie Wille ist unüberwindlich; es liegt in seiner Natur. Gross ist der Hang zu Sünde im Menschen,<br />

aber grösser ist die Kraft, die Sünde zu überwältigen.» Geisteskrankheiten waren für Heinroth die Folgen<br />

einer vernunft- <strong>und</strong> sittenwidrigen Lebensführung. Er betrachtete den geistesgestörten Straftäter gr<strong>und</strong>-<br />

211 Esquirol, 1838 II, 803f. Unter einer «Monomanie» hatte Esquirol zunächst eine Geistesstörung verstanden, die auf einen Gegenstand<br />

beschränkt blieb, sich also in einem partiellen Delirium äusserte. Erst nach <strong>und</strong> nach integrierte er Pinels Konzept einer<br />

«Manie ohne Delirium» in sein eigenes Monomaniekonzept. Zur Monomanielehre in der französischen <strong>Psychiatrie</strong> vor allem<br />

Goldstein, 1987, 152-196, zu Esquirol insbesondere: 169-178; ebenfalls ausführlichere Hinweise finden sich bei: Chauvaud, 2000,<br />

118-129, Debuyst, 1995, 220-249; Dörner, 1995, 163-166; Castel, 1979, 183-192.<br />

212 Goldstein, 1987, 162-166; Bass, 1964, 64-66. Zum ähnlich gelagerten Fall Rivière: Foucault, 1973<br />

213 Vgl. Abelson, 1989; Schulte, 1989, 97-99.<br />

214 Büchner, 1988, 650.<br />

215 Vgl. Meichtry, 1994, 70f.<br />

52

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!