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Psychiatrie und Strafjustiz

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«öffentlichen Sicherheit» in den Vordergr<strong>und</strong> treten liess. 501 Allerdings muss man sich in diesem Zusam-<br />

menhang vor dem Postulieren einer falschen Diskontinuität hüten, denn auch die früheren Anstaltspsy-<br />

chiater hatten sich sehr wohl zur Aufgabe bekannt, «gefährliche Geisteskranke» aus Gründen der «öffent-<br />

lichen Sicherheit» zu verwahren. 502 Dennoch ist unübersehbar, dass der von den Kriminalanthropologen<br />

<strong>und</strong> Strafrechtsreformern geprägte Diskurs der «sozialen Verteidigung» das humanitäre Selbstverständnis<br />

der Psychiater, wenn auch nicht ganz, so doch zu einem gewissen Grad zu verdrängen vermochte. Zusätz-<br />

lich zu dieser diskursiven Verschiebung trugen die im Anschluss an die Degenerationstheorie entwickelten<br />

Deutungsmuster bei, die einem wachsenden Anteil der begutachteten DelinquentInnen, die sich meist aus<br />

den Unterschichten rekrutierten, das Stigma der «Minderwertigkeit» eintrugen. Deutlich zum Ausdruck<br />

kommt dieser Einstellungswandel in einer Aussage Forels zur Frage der Todesstrafe: «Unsere Altvorderen<br />

hatten ein einfacheres <strong>und</strong> radikaleres System. Bei der ersten, oft nicht einmal besonders schweren Tat<br />

hängten sie die Schuldigen ohne viel Umstände auf. In gewissen Beziehungen war das menschlicher, weil<br />

dies schnell ausgeführt wurde. Nur der Mangel an Unterscheidung hat oft zahlreiche Unschuldige aufhän-<br />

gen <strong>und</strong> zahlreiche Schuldige schlüpfen lassen. Aber im Grossen <strong>und</strong> Ganzen verhinderte man die Wie-<br />

dererzeugung der schlechten Brut. Die allzu einseitige, schwache, feige <strong>und</strong> blinde Humanität unserer<br />

gegenwärtigen Gesellschaft begnügt sich im Gegenteil oft mit damit, freizusprechen <strong>und</strong> laufen zu lassen,<br />

ohne den Mut zu haben, Präventivmassregeln zu ergreifen, die sich immer dringender notwendig machen<br />

gegen das Verbrechen <strong>und</strong> seine Ursachen, wie gegen die Degeneration der Rasse.» 503 Forel verkehrte hier<br />

die Argumentation der frühen Gerichtsärzte in ihr Gegenteil. Hatten sich diese meist für die Abschaffung<br />

der Todesstrafe ausgesprochen, so instrumentalisierte Forel die frühneuzeitliche Strafpraxis, um die krimi-<br />

nalpolitische Forderung nach effizienten «Präventivmassregeln» zu begründen. 504 Bereits 1884 hatte er die<br />

Frage aufgeworfen, «ob die Beseitigung der abscheulichsten Exemplare menschlicher Gehirne durch<br />

schmerzlosen Tod nicht das Beste <strong>und</strong> Humanste wäre». 505 In die gleiche Richtung wie Forel argumentier-<br />

te auch Hans W. Maier in seiner Dissertation über die «moralische Idiotie». 506 Auch wenn solche psychiat-<br />

rischen Tötungsphantasien in der Schweiz keine Umsetzung finden sollten, so dokumentieren sie doch ein<br />

Selbstverständnis, das dem der Dienst am Gesellschaftsganzen zunehmend Priorität vor dem Schutz des<br />

Geisteskranken vor ungerechter Bestrafung einräumte. Forels Ausführungen zur Todesstrafe stellten die<br />

von ihm geforderten «Präventivmassregeln» zudem in den Kontext der zeitgenössischen Eugenikdebatte.<br />

Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Forel <strong>und</strong> seine Schüler in eugenischen Massnahmen ein<br />

probates Mittel sahen, um «Krankheit <strong>und</strong> Unglück an ihrer Wurzel auszurotten». 507 Vor allem von der<br />

Sterilisation Geisteskranker erhofften sie sich Alternativen zu der von therapeutischer Ineffizienz gepräg-<br />

ten Anstaltspsychiatrie. In der Perspektive dieser Psychiater verbanden sich Anstaltspsychiatrie, Kriminal-<br />

politik <strong>und</strong> Eugenik zum visionären Projekt einer «sozialen Verteidigung», das durch wissenschaftlich<br />

legitimierte <strong>und</strong> staatlich besoldete Experten im Hinblick auf ein gesellschaftliches «Gesamtwohl» in die<br />

Praxis umgesetzt werden sollte.<br />

Forel <strong>und</strong> vor allem seine Schüler waren sich allerdings der utopischen Züge der von ihnen geforderten<br />

Kriminal- <strong>und</strong> Gesellschaftspolitik bewusst. So meinte Bleuler 1896 in Bezug auf die geforderte Umgestal-<br />

tung des Strafrechts: «Erreichen wird unserer Generation dieses Ziel natürlich nicht mehr». 508 Auch von<br />

501 Vgl. Blasius, 1994, 80-115, spricht in diesem Zusammenhang von «Ordnungspsychiatrie».<br />

502 Vgl. Kaufmann, 1995, 243-260, 307.<br />

503 Forel, 1907, 179.<br />

504 Ähnlich argumentierte Zürcher, 1892, 1f., unter Bezugnahme auf einen Gerichtsfall aus dem Jahre 1582.<br />

505 Forel, 1884, 22.<br />

506 Maier, 1908, 28.<br />

507 Vgl. Schreiben Ernst Rüdins an Auguste Forel, 11. November 1898; in: Forel, 1968, 332f.<br />

508 Bleuler, 1896, 79.<br />

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