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Psychiatrie und Strafjustiz

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tragen liess. Die Strafe sollte in solchen Fällen gemindert werden oder ganz wegfallen. 525 Wie viele ihrer<br />

ausländischen Fachkollegen gingen die Schweizer Psychiater von der Notwendigkeit aus, auf der rechtli-<br />

chen Ebene ein Korrelat zu den psychiatrisch neu erfassten «Übergangszuständen» zwischen Krankheit<br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit zu schaffen. Indem das Strafrecht den veränderten psychiatrischen Deutungsmustern<br />

Rechnung trug, liessen sich, so die Auffassung vieler Psychiater, Konflikte zwischen Juristen <strong>und</strong> Sachver-<br />

ständigen bei der Beurteilung ausgesprochener «Grenzfälle» reduzieren. Systemtheoretisch betrachtet,<br />

wurden dadurch Koppelungsbedingungen geschaffen, die sowohl der <strong>Strafjustiz</strong>, als auch der <strong>Psychiatrie</strong><br />

Spielräume bei der Beurteilung von Fällen zugestanden, die sich nicht in die dualen Codierungsschemata<br />

der beiden Bezugssysteme bringen liessen. Im Gegensatz zu ihren deutschen <strong>und</strong> französischen Fachkol-<br />

legen konnten die Schweizer Irrenärzte auf ihre positiven Erfahrungen in der kantonalen Justizpraxis ver-<br />

weisen, sahen doch viele kantonale Strafgesetzbücher bereits seit längerem eine Abstufung der Zurech-<br />

nungsfähigkeit vor. 526 Unter diesen Umständen erstaunt es nicht, dass die von den Irrenärzten in Chur<br />

ohne grössere Diskussion verabschiedete Forderung nach einer verminderten Zurechnungsfähigkeit unter<br />

den Schweizer Juristen auf keine grösseren Widerstände stiess. 527 Stooss übernahm in seinen Erläuterun-<br />

gen zum Vorentwurf denn auch weitgehend die Argumente der Irrenärzte: «Der Übergang von der geisti-<br />

gen Ges<strong>und</strong>heit zur Geisteskrankheit <strong>und</strong> von dem klaren Bewusstsein zur Bewusstlosigkeit ist ein allmäh-<br />

licher <strong>und</strong> kaum merklicher. Das Strafrecht soll auch den Übergangszuständen gerecht werden. Minde-<br />

rungen der geistigen Ges<strong>und</strong>heit oder des Bewusstseins, <strong>und</strong> ein angeborener Zustand, der weder als geis-<br />

tige Ges<strong>und</strong>heit noch als Blödsinn sich darstellt, rechtfertigen weder die Anwendung der vollen Strafe,<br />

noch vollständige Straflosigkeit des Täters, wohl aber eine mildere Bestrafung.» 528 In der Expertenkom-<br />

mission von 1893 <strong>und</strong> in den weiteren Beratungen der Vorentwürfe gab schliesslich weniger die Frage<br />

Anlass zu Diskussionen, ob das künftige Strafgesetzbuch überhaupt eine verminderte Zurechnungsfähigkeit<br />

vorsehen solle, als das Problem, wie vermindert zurechnungsfähige StraftäterInnen strafrechtlich zu<br />

behandeln waren. Da es sich dabei im Wesentlichen um die Frage nach dem Verhältnis von (gemilderter)<br />

Strafe <strong>und</strong> sichernder Massnahme handelte, wird diese Debatte in Kapitel 4.32 analysiert.<br />

Anlass zu heftigen Kontroversen gab im Laufe der Strafrechtsdebatte dagegen die Forderung der Irrenärz-<br />

te nach einer medizinischen Definition der Zurechnungsfähigkeit. Ausgangspunkt war in diesem Fall die ebenfalls<br />

unter Schweizer Psychiatern verbreitete Kritik am Kriterium der Willensfreiheit, wie es in vielen kantonalen<br />

Strafgesetzbüchern enthalten war. 529 In diesem Zusammenhang stand auch die erwähnte Polemik Fo-<br />

rels <strong>und</strong> Bleulers gegen die Annahme eines freien Willens. Auch Wille kritisierte 1889 das Axiom der Wil-<br />

lensfreiheit, auf das sich viele Strafgesetze berufen würden: «Es ist die Auffassung des Willens von Seiten<br />

der Gesetzgeber als eines absolut unabhängigen <strong>und</strong> selbständig für sich bestehenden Seelenvermögens in<br />

einer Beziehung derart veraltet, unwissenschaftlich, den wirklichen psychologischen Verhältnissen nicht<br />

entsprechend, in anderer Beziehung so willkürlich, dass die jetzige Gesetzgebung einmal mit dieser der<br />

Wolf-Kant’schen Psychologie entstammenden Theorie ein- für allemal brechen <strong>und</strong> an Stelle der alten<br />

kriminalistischen den modernen psychologischen Begriff setzen sollte.» 530 Das Widerstreben vieler Psychi-<br />

ater gegen eine auf die Aufklärungsphilosophie zurückgeführte <strong>und</strong> als «veraltet» empf<strong>und</strong>ene Willensse-<br />

525 Speyr, 1894, 186f.; BAR E 4110 (A) -/42, Band 21, Protokoll der Versammlung des Vereins der Schweizer Irrenärzte in Chur<br />

am 22. u. 23. Mai 1893, der entsprechende Vorschlag der Irrenärzte lautete: «War die geistige Ges<strong>und</strong>heit oder das Bewusstsein<br />

des Täters nur beeinträchtigt, oder war der Täter geistig mangelhaft entwickelt, so ist die Strafe zu mildern oder gänzlich auszuschliessen.»<br />

526 Vgl. Wille, 1890, 4; Stooss, 1892/93, 171-196.<br />

527 Vgl. Gschwend, 1994, 46.<br />

528 VE 1893, 23f.<br />

529 Vgl. die Darstellung dieser Debatte in Bezug auf die Berner Strafgesetzgebung in Kapitel 5.1.<br />

530 Wille, 1890, 2.<br />

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