13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

igkeit zu erklären, weshalb Binggeli so kurzfristig <strong>und</strong> vor allem zu seinem eigenen Schaden gehandelt<br />

hat, obwohl er die Tat mit Bedacht <strong>und</strong> bei erhaltener Besonnenheit ausführte, verkleinert sich indessen<br />

erheblich bei Berücksichtigung seiner abnormen geistigen Konstitution <strong>und</strong> der gemütlichen Verfassung,<br />

in der er gehandelt hat. Auch wenn uns zwar die Annahme nicht erwiesen erscheint, dass er unter dem<br />

Einflusse eines augenblicklichen zornigen Affektes handelte, so erscheint uns anderseits ebenso zweifellos<br />

festzustehen, dass Binggeli seit längerer Zeit von einem Gefühle des Hasses gegen alle seine Angehörigen,<br />

die Kinder ausgenommen, erfüllt war. Dieser in dem reizbaren <strong>und</strong> misstrauischen Charakter des Ange-<br />

klagten begründete Hass war noch genährt worden von Binggelis fast bis zur fixen Idee gediehener Überzeugung,<br />

dass er vom Bruder <strong>und</strong> den übrigen Angehörigen hintergangen werden <strong>und</strong> um sein Anrecht<br />

am Hofe betrogen werde. Dieser dauernde <strong>und</strong> blinde Hass war die tiefere Ursache der Schreckenstat<br />

[...]» 866<br />

Für die Psychiater lag die Mordtat letztlich in einem «dauernden <strong>und</strong> blinden Hass» <strong>und</strong> dieser wiederum<br />

in einer «abnormen Konstitution» des Exploranden begründet. Letztere sahen sie als erwiesen an, da<br />

Binggeli durch seinen geisteskrank gestorbenen Vater «erblich schwer mit der Anlage zu Geistesstörung»<br />

belastet sei. Damit erweiterten sie die Palette der bisher ins Spiel gebrachten Deutungsmuster. Die Mord-<br />

tat war in ihren Augen nicht allein das Resultat eines familiären Konflikts oder der direkte Ausfluss einer<br />

Geisteskrankheit. Sie führten diese vielmehr auf die «abnorme» Individualität des Täters zurück. Gemes-<br />

sen wurde diese «Abnormität» am Modell des rational handelnden Bürgersubjekts, das seine Ziele <strong>und</strong><br />

Mittel zweckgerichtet aufeinander abzustimmen vermag. Gleichzeitig geriet durch das Zurückführen des<br />

«blinden Hasses» auf einen «abnormen Charakter» der soziale Kontext, in welchem die Handlung anfäng-<br />

lich verortet wurde, aus dem Blickfeld der Psychiater. In diesem Reduktionsprozess widerspiegelt sich<br />

zugleich die zweiteilige Diskursstruktur des Gutachtens: Das soziale <strong>und</strong> familiäre Umfeld der Tat spielte<br />

zwar bei der psychiatrischen Anamnese eine wichtige Rolle, im Laufe des eigentlichen Gutachtens trat es<br />

aber zunehmend in den Hintergr<strong>und</strong>. In den Schlussfolgerungen der Psychiater löste sich dieser soziale<br />

Kontext dann beinahe ganz auf: «Sein [Binggelis] abnormer Charakter führte zu seinem unglücklichen,<br />

unfre<strong>und</strong>lichen Verhältnis zu den Angehörigen <strong>und</strong> bestärkte ihn in dem wachsenden Misstrauen <strong>und</strong><br />

Hasse gegen sie. In diesem unglücklichen, angeborenen, wenig korrigierten Charakter liegt demnach die<br />

tiefere Begründung seiner Straftat». 867 Mit dieser Feststellung verlegte das Gutachten die Ursache der<br />

schrecklichen Tat in die Individualität des Exploranden hinein <strong>und</strong> brachte damit ein Deutungsmuster ins<br />

Spiel, dass die Tat aus der sozialen Lebenswelt herauslöste <strong>und</strong> in einen in sich geschlossenen Sinnzu-<br />

sammenhang stellte.<br />

Das Gutachten befand schliesslich, dass sich Binggeli seiner Handlung <strong>und</strong> deren Strafbarkeit bewusst<br />

gewesen sei. Diese Einschätzung übernahm auch die Anklageakte, als sie festhielt: «In jedem Falle er-<br />

scheint Christian Binggeli, welcher die Begehung der Tat schlechthin zugibt, auch in subjektiver Beziehung,<br />

d.h. hinsichtlich der Zurechenbarkeit seiner Handlung schwer belastet.» 868 Unter diesen Vorausset-<br />

zungen begannen am 20. Dezember 1900 in Bern die Verhandlungen des Geschworenengerichts. Dabei<br />

nahm auch der B<strong>und</strong> seine Spekulationen über den Geisteszustand des Angeklagten wieder auf. Sei man zu<br />

Beginn noch geneigt gewesen, so der Korrespondent, «Irrsinn als Gr<strong>und</strong>lage dieser unbegreiflichen Bluttat<br />

anzunehmen», so würden die «fachmännischen Experten» nun den Fall doch nicht «als so einfach» be-<br />

trachten. Der erste Prozesstag hätte zudem gezeigt, «dass Binggeli im Allgemeinen wohl als ein stiller,<br />

zurückhaltender Charakter, aber durchaus nicht als ein überspannter oder geistesgestörter Mann betrachtet<br />

866 Glaser, 1901, 359.<br />

867 Glaser, 1901, 361.<br />

868 StAB BB 15.4, Band 1717, Dossier 9458, Anklageakte gegen Christian Binggeli, 17. November 1900.<br />

198

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!