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Psychiatrie und Strafjustiz

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Frage, ob jemand verantwortlich sei. Dem Richter wird hier die Antwort genommen <strong>und</strong> dem Experten zugewie-<br />

sen.» 541 Traditionalistische Juristen wie Gretener <strong>und</strong> Thormann interpretierten die Bestrebung der Psychi-<br />

ater, die Zurechnungsfähigkeit medizinisch zu definieren, somit ganz in der Tradition juristisch-<br />

psychiatrischer Kompetenzkonflikte <strong>und</strong> sahen sich in die Rolle versetzt, die Kompetenzen der Justiz<br />

gegen eine sich auf Expansionskurs befindende <strong>Psychiatrie</strong> zu verteidigen. 542<br />

Diese Interpretation, die man wegen ihrem Fokus auf Aneignung <strong>und</strong> Verteidigung von Kompetenzberei-<br />

chen auch als Professionalisierungsthese avant la lettre bezeichnen könnte, erscheint vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

der radikalen kriminalpolitischen Forderungen einzelner Exponenten der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> auf den<br />

ersten Blick plausibel <strong>und</strong> ist, wie erwähnt, auch ansatzweise in der Forschung vertreten worden. 543 Eine<br />

differenzierte Quellenanalyse zeigt allerdings, dass für die Schweizer Irrenärzte im Zusammenhang mit der<br />

Definition der Zurechnungsfähigkeit gerade nicht eine Ausweitung ihrer Kompetenzen, sondern eine<br />

Vereinfachung ihrer Arbeitsbedingungen als Gerichtsgutachter <strong>und</strong> eine Entschärfung potenzieller Kon-<br />

flikte mit den Justizbehörden im Vordergr<strong>und</strong> standen. Die Interpretation der Debatte durch Gretener<br />

<strong>und</strong> Thormann kollidiert denn auch auffallend mit den wiederholten Aussagen von Psychiatern <strong>und</strong> Strafrechtsreformern,<br />

dass mit einer medizinischen Definition die traditionelle Kompetenzaufteilung zwischen<br />

Richter <strong>und</strong> Sachverständigen nicht tangiert werden solle. So meinte von Speyr 1893: «Wir haben zu be-<br />

denken, dass der Arzt nicht Richter ist, <strong>und</strong> dass diesem die endgültige Entscheidung zufällt.» 544 Die For-<br />

derung nach einer Bindungswirkung psychiatrischer Gutachten war denn auch nicht Gegenstand der Aus-<br />

führungen von Speyrs. Auch Stooss bestätigte die Nebensächlichkeit der Definitionsfrage in Bezug auf die<br />

Kompetenzproblematik vor der ersten Expertenkommission: «Die Frage der Zurechnungsfähigkeit ist im<br />

Gr<strong>und</strong>e eine medizinische, die auch da von Medizinern entschieden wird, wo die Gesetzgebung als Krite-<br />

rien der Unzurechnungsfähigkeit das Fehlen der Unterscheidungskraft <strong>und</strong> der Dispositionsfähigkeit auf-<br />

gestellt hat.» 545 Für Stooss war somit weniger die Art der Definition als der Umstand entscheidend, dass<br />

zweifelhafte Zustände überhaupt von Ärzten begutachtet wurden. Ohne dass dies von den Irrenärzten<br />

explizit gefordert worden wäre, setzte er sich dafür ein, dass die Pflicht der Justizbehörden, zweifelhafte<br />

Geisteszustände durch Sachverständige abzuklären, im materiellen Strafrecht verankert wurde. 546 Die Vor-<br />

teile einer medizinischen Definition seien, so Stooss weiter, vor allem praktischer Natur. Sie liefere «besse-<br />

re Resultate», «da ja die Irrenärzte mit einer allgemeinen [psychologischen] Definition nichts anfangen<br />

können». 547 Wie er 1899 in einem Bericht zuhanden des Justizdepartements ausführte, erwartete Stooss<br />

von der Aufnahme einer medizinischen Definition ins Strafgesetz keine Kompetenzausweitung zugunsten<br />

der medizinischen Sachverständigen: «In keinem Fall ist das Gericht an das Gutachten des Sachverständi-<br />

gen geb<strong>und</strong>en. Was Geisteskrankheit, Blödsinn, Bewusstlosigkeit im Sinne des Strafgesetzes bedeuten,<br />

entscheidet überall der Strafrichter. Es ist nicht zu befürchten, dass die psychiatrischen Sachverständigen<br />

einen allzu grossen Einfluss auf die Strafgerichte gewinnen.» 548 Auch andere Strafrechtsreformer betonten,<br />

541 Expertenkommission, 1912 I, 115 (nachträglich Hervorhebung durch den Verfasser). Das Protokoll der Expertenkommission<br />

variiert im Original zwischen direkter <strong>und</strong> indirekter Rede.<br />

542 Vgl. Expertenkommission, 1893 I, 68 (Antrag Scherb); Expertenkommission, 1912 I, 125 (Votum Dechenaux), 126 (Voten<br />

von Planta <strong>und</strong> Müller).<br />

543 Vgl. Fussnote 538.<br />

544 Speyr, 1894, 185.<br />

545 Expertenkommission, 1893 I, 66 (nachträgliche Hervorhebung durch den Verfasser).<br />

546 Expertenkommission, 1893 I, 288, 376; VE 1894, 126 (Art. 9). Die prozessuale Bestimmung über die Begutachtung zweifelhafter<br />

Geisteszustände durch Sachverständige kam – ohne grössere Debatte – erst im Laufe der Beratungen der Expertenkommission<br />

zustande.<br />

547 Expertenkommission, 1893 I, 71.<br />

548 Vgl. Stooss, 1899, 31.<br />

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