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Psychiatrie und Strafjustiz

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hölzli. Dort waren zwischen 1905 <strong>und</strong> 1929 die «Oligophrenien» («angeborene Störungen») mit 24,6%, die<br />

«Psychopathien» mit 23,3% <strong>und</strong> die endogenen Psychosen («einfache Störungen») mit 24,4% vertreten. Im<br />

Vergleich zum Burghölzli waren in Bern die angeborenen Störungen etwas weniger stark vertreten. Dage-<br />

gen wurde in Zürich häufiger als in Bern gar keine Geisteskrankheit festgestellt (15,6%). 739<br />

Bezüglich der zeitlichen Entwicklung lassen sich bei allen drei Diagnosegruppen Veränderungen feststel-<br />

len. 1887–1891 machten die «einfachen Störungen» noch 40,0% aller gestellten Diagnosen aus. 1906–1910<br />

betrug ihr Anteil nur noch 23,3%, um dann in der letzten Fünfjahresperiode wieder leicht anzusteigen.<br />

Der Anteil der «angeborenen Störungen» schwankte dagegen zwischen den verschiedenen Perioden auffal-<br />

lend, so dass kaum eine allgemeine Entwicklungstendenz festgestellt werden kann. Die «konstitutionellen»<br />

Störungen nahmen dagegen über alle vier Perioden hinweg kontinuierlich zu. Ihr Anteil legte zwischen<br />

1887–1891 <strong>und</strong> 1912–1916 um 19,5% zu. Die «konstitutionellen Störungen» wurden damit nach der Jahr-<br />

h<strong>und</strong>ertwende in forensischer Hinsicht zur wichtigsten Diagnosegruppe. Gleichzeitig sank der Anteil der<br />

«einfachen Störungen», deren Zustandsbilder am ehesten dem Typus der klar abgegrenzten Geisteskrank-<br />

heiten entsprachen. Die leichte Zunahme in der letzten Fünfjahresperiode dürfte dagegen auf das häufige-<br />

re Stellen der Diagnose «Dementia praecox» in der Waldau zurückzuführen sein. Zugenommen hat somit<br />

in erster Linie der Anteil derjenigen Diagnosegruppe, die den psychiatrisch neu erschlossenen Übergangs-<br />

bereich zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit abdeckte. Nur phasenweise zugenommen haben die Intelli-<br />

genzminderungen. Es ist demnach davon auszugehen, dass die festzustellende Expansion der forensisch-<br />

psychiatrischen Begutachtungspraxis zu einem guten Teil über Zustandsbilder erfolgte, die zuvor noch<br />

nicht oder nur am Rande zum Gegenstandsbereich der <strong>Psychiatrie</strong> gehört hatten. Deutlich zeigt sich auch,<br />

wie die im Anschluss an die Degenerationstheorie entstandenen psychiatrischen Deutungsmuster Nieder-<br />

schlag in der forensisch-psychiatrischen Praxis fanden. Die Aneignung dieser Zustandsbilder durch Psy-<br />

chiater <strong>und</strong> Juristen öffnete folglich den Weg zu einer forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens<br />

im Justizalltag.<br />

Die Geschlechtsspezifität der Diagnosen 740<br />

Die psychiatrische Klassifikation von Straftätern <strong>und</strong> Straftäterinnen verlief je nach Geschlecht unter-<br />

schiedlich. Tabelle 2 zeigt die geschlechtsspezifische Verteilung der erhobenen 375 Diagnosen auf die<br />

einzelnen Gruppen.<br />

Tabelle 2: Verteilung der Diagnosen nach Geschlecht (Angaben in Prozent)<br />

Diagnosegruppen Männer Frauen<br />

1. Angeborene Störungen 17,8 11,3<br />

2. Konstitutionelle Störungen 22,0 54,9<br />

3. Einfache Störungen 29,3 16,9<br />

4. Organische Störungen 3,3 1,4<br />

5. Epilepsie 7,9 2,8<br />

6. Intoxikationspsychosen 9,5 1,4<br />

7. Nicht geisteskrank 10,2 11,3<br />

100 (304) 100 (71)<br />

739 Manser, 1932, 9. Davon weichen die Angaben in Bleuler, 1951, 388f., für die Jahre 1900–1949 markant ab (Geisteskrankheiten:<br />

15,2%; Schwachsinn: 21,2%; Psychopathien: 63,5%).<br />

740 Vgl. Germann, 1999, 119-121.<br />

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