13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

die Schweizer Psychiater mit den Folgeproblemen ihrer kriminalpolitischen Erfolge konfrontiert, die ih-<br />

nen ihrerseits neue Problemlösungsstrategien abverlangten.<br />

Das Beispiel der Berner Justizpraxis zeigt, dass die forcierte Medikalisierung kriminellen Verhaltens letzt-<br />

lich zu einer Zunahme der psychiatrisch verwahrten oder versorgten StraftäterInnen führte. Die Auswei-<br />

tung des psychiatrischen Blickfelds auf leichtere «psychische Abnormitäten» hatte zudem zur Folge, dass<br />

vermehrt auch DelinquentInnen in Irrenanstalten eingewiesen wurden, die nicht dem klassischen Bild des<br />

Geisteskranken entsprachen. Bereits nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende beklagten sich verschiedene Anstaltspsy-<br />

chiater über die organisatorischen <strong>und</strong> disziplinarischen Schwierigkeiten, die ihnen die Verwahrung sol-<br />

cher «Grenzfälle» boten. Gefordert wurde die Schaffung eigener forensisch-psychiatrischer Verwahrungs-<br />

institutionen, wobei verschiedene Grade der institutionellen Ausdifferenzierung zur Diskussion standen.<br />

Obwohl sich die Schweizer Psychiater keineswegs einig waren, wie sie das Verwahrungsproblem angehen<br />

wollten, setzte sich um 1910 der Vorschlag durch, nach deutschem Vorbild spezielle Annexe für «anstalts-<br />

gefährliche» Insassen an Irrenanstalten zu errichten. Nachdem ein entsprechendes Projekt in Zürich ge-<br />

scheitert war, vollzog die scientific community allerdings eine Kehrwende, die nicht zuletzt durch politische<br />

Rücksichten auf die laufenden Diskussionen um die Anstaltsreform im Rahmen des künftigen Strafgesetzbuchs<br />

begründet war. In einem Gutachten zuhanden des B<strong>und</strong>esrats verwarf der Direktor der Rheinau<br />

1912 die Strategie, spezielle Verwahrungsinstitutionen zu errichten, zugunsten einer Verteilung der zu<br />

verwahrenden DelinquentInnen auf die bestehenden Anstaltsabteilungen. Problemfälle, die den Anstalts-<br />

betrieb störten, sollten zudem in den regulären Strafvollzug zurückversetzt werden. Der (finanz-)politisch<br />

motivierte Verzicht auf eine institutionelle Ausdifferenzierung hatte zur Folge, dass sich die im Gutachten<br />

von 1912 vorgezeichnete Tendenz zu einer teilweisen Demedikalisierung des psychiatrischen Massnahmenvollzugs in<br />

der Zwischenkriegszeit zu einer funktional äquivalenten Perspektive entwickelte, die gegenüber der Ausdif-<br />

ferenzierungsstrategie den Vorteil aufwies, dass sie den unmittelbaren politischen Handlungsbedarf weitge-<br />

hend reduzierte. Dass ausgesprochene «Grenzfälle» wie «PsychopathInnen» nicht in Irrenanstalten zu<br />

verwahren waren, gehörte in der Zwischenkriegszeit zum Credo einer Mehrheit der Schweizer Psychiater.<br />

Gefördert wurden solche Demedikalisierungstendenzen einerseits durch Entwicklungen im Strafvollzug<br />

<strong>und</strong> in der Anstaltspsychiatrie, die auf eine zunehmende Differenzierung von Behandlungs- <strong>und</strong> Verwah-<br />

rungsangeboten hinausliefen, andererseits durch die (Wieder-)Anerkennung der primären Repressions-<br />

funktion des Strafrechts durch namhafte Exponenten der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong>. Befürchtungen vor einer<br />

zu laxen Exkulpationspraxis wurden in der Zwischenkriegszeit nicht mehr allein seitens konservativer<br />

Politiker, sondern auch seitens einzelner Psychiater laut. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs<br />

avancierte das Bekenntnis zu einem im «Volksempfinden» verwurzelten Schuldstrafrecht schliesslich zum<br />

Bestandteil der nationalen Gemeinschaftssemantik der «Geistigen Landesverteidigung», der sich auch die<br />

Psychiater nicht entziehen konnten <strong>und</strong> wollten.<br />

Die Einführung des Strafgesetzbuchs 1942 bedeutete für die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> einen eigentlichen<br />

«Praxisschock» (Detlev Peukert). Einerseits bedingte die markante Zunahme der Begutachtungsaufträge<br />

personelle Anpassungen, andererseits liess die Umsetzung des neuen Massnahmenrechts schlagartig die<br />

institutionellen Defizite im Bereich des psychiatrischen Massnahmenvollzugs zu Tage treten. Diese institu-<br />

tionellen Herausforderungen setzten innerhalb der scientific community Lern- <strong>und</strong> Anpassungsprozesse in Gang, die an<br />

die bereits in der Zwischenkriegszeit diskutierten Ansätze zur Lösung des Verwahrungsproblems an-<br />

knüpften. Eine Minderheit der Psychiater forderte, die Ausweitung des forensisch-psychiatrischen Tätig-<br />

keitsbereichs durch die Errichtung spezieller Institutionen aufzufangen, welche Verwahrungs-, Begutach-<br />

tungs- <strong>und</strong> Forschungsaufgaben übernehmen sollten. Die überwiegende Mehrheit der Disziplin sprach<br />

410

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!