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Psychiatrie und Strafjustiz

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konzepts nach dem Zweiten Weltkrieg eine untergeordnete Rolle. Mit der Bereitschaft, auf die neuen psy-<br />

chiatrischen Deutungsangebote einzugehen, schuf sich die bürgerliche <strong>Strafjustiz</strong> der Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

gleichsam eine Klasse sozial abweichender <strong>und</strong> vermeintlich integrationsunfähiger StraftäterInnen.<br />

3.2 Vom Strafrecht zum Schutzrecht: Die internationale Strafrechtsreformbewegung<br />

Die Entwicklung <strong>und</strong> Durchsetzung neuer psychiatrischer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens war<br />

eng mit der in den 1870er Jahren zunehmenden Kritik an der bürgerlichen <strong>Strafjustiz</strong> verb<strong>und</strong>en. Einer-<br />

seits bewirkte das Konzipieren eines Übergangsbereichs zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit, dass Psy-<br />

chiater <strong>und</strong> Gefängnisärzte vergleichsweise häufiger die psychische «Normalität» <strong>und</strong> die Zurechnungsfä-<br />

higkeit von DelinquentInnen in Frage stellten. Psychiater wie Krafft-Ebing oder Koch forderten denn<br />

auch seit den 1870er Jahren Reformen des Strafrechts wie die Einführung einer verminderten Zurech-<br />

nungsfähigkeit. Kraepelin verlangte 1880 sogar die vollständige Preisgabe des Prinzips der Zurechnungs-<br />

fähigkeit <strong>und</strong> die gänzliche «Abschaffung des Strafmasses». 291 Die wachsende Problematisierung der indi-<br />

viduellen Verantwortlichkeit seitens der <strong>Psychiatrie</strong> unterminierte in den Augen vieler Juristen die Gr<strong>und</strong>-<br />

feste des bürgerlichen Strafrechts. Andererseits boten psychiatrische Deutungsmuster plausible Erklärun-<br />

gen für die von der Justiz <strong>und</strong> der Öffentlichkeit gleichermassen konstatierten Kriminalitätszunahme <strong>und</strong><br />

für das damit zusammenhängende Phänomen der Rückfälligkeit. So hielt es der Psychiater Aschaffenburg<br />

aufgr<strong>und</strong> der neusten Kriminalstatistiken für erwiesen, «dass zahllose Mitglieder des Verbrecherheeres<br />

unter den jetzigen Verhältnissen weder aus eigener Kraft die Verbrecherlaufbahn verlassen, noch ihr ent-<br />

rissen werden können. Wenn auch der anatomische Beweis als missglückt zu betrachten ist, den statistischen<br />

Beweis von der Existenz des unverbesserlichen Verbrechers kann man nicht aus der Welt schaf-<br />

fen». 292 Für Aschaffenburg war es klar, dass die konstatiere «Unverbesserlichkeit» von StraftäterInnen zu<br />

einem guten Teil, wenn auch nicht ausschliesslich biologische Ursachen haben musste.<br />

Die im Anschluss an die Degenerationstheorie entstandenen psychiatrischen Deutungsmuster lieferten auf<br />

diese Weise wichtige Impulse für einen Lernprozess, der zwischen 1880 <strong>und</strong> 1910 zur Formulierung eines<br />

neuen Strafparadigmas führte, das die Kriminalpolitik verschiedener Länder, darunter auch der Schweiz,<br />

nachhaltig prägen sollte. Die juristischen Reformkonzepte brachen nicht nur mit den Prinzipien des libera-<br />

len Schuldstrafrechts, sondern postulierten auch eine deutlich weitergehende Medikalisierung kriminellen<br />

Verhaltens. Entschieden vorangetrieben wurde dieser europaweite Lernprozess von den italienischen<br />

Kriminalanthropologen. Lombroso bestritt etwa wiederholt die Existenz einer «Willensfreiheit» <strong>und</strong> be-<br />

tonte «die psychologische, respektive organische Notwendigkeit der gegebenen Willensäusserungen der<br />

Menschen überhaupt <strong>und</strong> des Verbrechers insbesondere». Für ihn ergab sich aus der Erkenntnis, dass es<br />

sich beim Verbrechen um eine «notwendige Naturerscheinung» handle, die Notwendigkeit, bei der Bewäl-<br />

tigung kriminellen Verhaltens nicht mehr von der individuellen Verantwortlichkeit, sondern vom Recht<br />

der Gesellschaft zur «Selbstwehr» auszugehen. 293 Die Umgestaltung des Strafrechts zu einem «Schutz-<br />

recht» war für Lombroso <strong>und</strong> andere Reformer eine logische Konsequenz aus der zunehmenden human-<br />

wissenschaftlichen Erfassung kriminellen Verhaltens. Wie der erste Abschnitt dieses Unterkapitels zeigt,<br />

wurde das neue Strafparadigma allerdings weniger durch den Mediziner Lombroso als durch die beiden<br />

Juristen Enrico Ferri <strong>und</strong> Raffaele Garofalo konzipiert, die damit die Gr<strong>und</strong>lagen für eine europaweite<br />

Reformbewegung legten. Juristische Konzepte <strong>und</strong> Traditionsbezüge spielten in der internationalen Straf-<br />

291 Krafft-Ebing, 1868, 211; Kraepelin, 1880; Koch, 1891, 133-145. 1906 fasste Kraepelin sein kriminalpolitisches Credo unter<br />

dem programmatischen Titel «Das Verbrechen als soziale Krankheit» zusammen; Kraepelin, 1906; Engstrom, 2001, 380-383.<br />

292 Hoche, 1901, 6.<br />

293 Lombroso, 1881, 113, 127; Lombroso, 1902, 338-340. Erstmals begründete Lombroso die Auswirkungen seiner Lehre auf das<br />

Strafrecht in der 1875 erschienenen Schrift Della pena; vgl. Hering, 1966, 57f.<br />

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