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Psychiatrie und Strafjustiz

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zurechnungsfähiger oder vermindert Zurechnungsfähiger in Straf- oder Verwahrungsanstalten, wie es die<br />

Berner Verordnung im Einzelfall erlaubte, wurde dabei kategorisch ausgeschlossen. In die gleiche Rich-<br />

tung wiesen ebenfalls die Diskussionsvoten an der Konferenz der kantonalen Justiz- <strong>und</strong> Polizeidirektoren<br />

vom September 1940. 1456 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, kam das «flexible Berner Modell» den<br />

Bedürfnissen der Psychiater jedoch in idealer Weise entgegen, erlaubte es doch die psychiatrischen Institu-<br />

tionen von Fall zu Fall von Verwahrungsaufgaben zu entlasten.<br />

Die Auswirkungen des neuen Strafgesetzbuchs auf die forensisch-psychiatrische Praxis<br />

Nach der Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuchs stieg im Kanton Bern wie in andern Kanto-<br />

nen die Zahl der von den kantonalen Irrenanstalten abgegeben strafrechtlichen Gutachten massiv an. In<br />

den letzten fünf Jahren unter der kantonalen Strafgesetzgebung (1937–1941) hatten die Berner Anstalts-<br />

psychiater im Durchschnitt 90 strafrechtliche Gutachten pro Jahr abgegeben. Zwischen 1942 <strong>und</strong> 1946<br />

stieg diese Zahl auf durchschnittlich 185 Gutachten pro Jahr, was einer Zunahme von 106 Prozent ent-<br />

spricht. 1457 Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch in andern Kantonen feststellen. In Königsfelden<br />

wurden zwischen 1937 <strong>und</strong> 1941 durchschnittlich 11 strafrechtliche Gutachten pro Jahr abgegeben, zwi-<br />

schen 1942 <strong>und</strong> 1946 stieg diese Zahl auf 39 pro Jahr. 1458 Auch die in der psychiatrischen Poliklinik in<br />

Zürich abgegebenen strafrechtlichen Gutachten verdoppelten sich nach 1942. 1459<br />

Was den Kanton Bern anbelangt, lässt sich diese Zunahme nicht schlüssig durch die neuen gesetzlichen<br />

Rahmenbedingungen erklären. Wie im 2. Teil dieser Untersuchung gezeigt worden ist, hatte bereits die<br />

kantonale Strafgesetzgebung eine Begutachtung von StraftäterInnen vorgesehen, deren Geisteszustand<br />

Anlass zu Zweifeln gab. Das 1927 in Kraft getretene revidierte kantonale Strafverfahren behielt seine Gül-<br />

tigkeit zudem über die Inkraftsetzung des schweizerischen Strafgesetzbuchs hinaus. Allerdings verlieh<br />

Artikel 13 des neuen Strafgesetzbuchs der Pflicht der Justizbehörden zur Abklärung zweifelhafter Geistes-<br />

zustände zusätzlich Nachdruck. Zudem hatte der Vollzug des neuen Massnahmenrechts seitens der Be-<br />

hörden einen wachsenden Bedarf an psychiatrischem Wissen über Geisteszustand <strong>und</strong> Charakter von<br />

angeklagten Personen zur Folge. Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass das neue Strafrecht<br />

gegenüber der bisherigen Praxis eine nochmals verstärkte Sensibilisierung der Justizbehörden gegenüber<br />

zweifelhaften Geisteszuständen bewirkt hat. Als Hinweis auf eine solche Sensibilisierung ist auch der Umstand<br />

zu interpretieren, dass im Vergleich zu der im 2. Teil dieser Untersuchung analysierten Begutach-<br />

tungspraxis zwischen 1885 <strong>und</strong> 1920 nach 1942 ein deutlich grösserer Anteil der begutachteten Straftäte-<br />

rInnen für zurechnungsfähig bef<strong>und</strong>en wurde. Demnach überwiesen die Justizbehörden zunehmend auch<br />

solche DelinquentInnen zur Begutachtung, bei denen die psychiatrischen Sachverständigen nicht bereit<br />

waren, eine Verminderung der Schuldfähigkeit anzunehmen. 1460 Für die psychiatrischen Anstalten bedeu-<br />

tete die Zunahme der Gutachten einen beträchtlichen Mehraufwand, den sie primär mittels Personalauf-<br />

stockungen aufzufangen versuchten. 1943 forderte die Direktion von Münsingen die Schaffung zusätzli-<br />

cher Stellen. Ein Jahr später bewilligte der Regierungsrat die Umwandlung einer Volontär- in eine Assis-<br />

1456 BBl, 1941 I, 994; Protokoll der Konferenz der kantonalen Justiz- <strong>und</strong> Polizeidirektoren, St. Gallen, 13./14. September 1940. Das Kreisschreiben<br />

des Justizdepartements vom November 1938 hatte es noch den Kantonen überlassen, die für den Vollzug sichernder<br />

Massnahmen an Unzurechnungsfähigen <strong>und</strong> vermindert Zurechnungsfähigen vorgesehen Anstalten jeweils im Einzelfall zu<br />

bestimmen (BBl, 1939 I, 16).<br />

1457 Jb. Waldau, 1941–1946; PZM, Jb. 1935–1939. Zu beachten ist, dass die nach 1942 erstellten Gutachten nicht allein die Frage<br />

der Zurechnungsfähigkeit, sondern auch Fragen des Massnahmenvollzugs zum Gegenstand hatten.<br />

1458 Jb. Königsfelden, 1937–1946. Bei den Zahlen für die Jahre 1945/46 handelt es sich um Annäherungswerte, da die Jahresberichte<br />

straf- <strong>und</strong> zivilrechtliche Gutachten nicht getrennt aufführen.<br />

1459 Jb. Burghölzli, 1937–1946. Die Zahl der am Burghölzli selbst abgegebenen strafrechtlichen Gutachten lässt sich aus den in<br />

den Jahresberichten enthaltenen Angaben nicht rekonstruieren.<br />

1460 Wyrsch, 1953, 26f. Gemäss dieser Statistik wurden von den zwischen 1942 <strong>und</strong> 1950 in der Waldau begutachteten DelinquentInnen<br />

57% für zurechnungsfähig, 33% für vermindert zurechnungsfähig <strong>und</strong> 10% für unzurechnungsfähig bef<strong>und</strong>en.<br />

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