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Psychiatrie und Strafjustiz

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Speyr verwies 1909 auf die Schwierigkeiten, auf die eine radikale Strafrechtsreform stossen musste: «Die<br />

alten Vorstellungen, dass jedes Verbrechen bestraft, vergolten, gerächt werden müsse, wurzeln noch viel<br />

zu tief, <strong>und</strong> die Anschauungen der neuen Schule, dass der Missetäter nicht in diesem Sinne bestraft, son-<br />

dern einfach für die Gesellschaft unschädlich gemacht werden sollte, ist noch lange nicht zur Geltung<br />

gekommen, obschon die Sicherung der Gesellschaft bei dieser neuen Anschauung zweifellos viel besser<br />

ist.» 509 Die führenden Schweizer Psychiater waren sich im Klaren, dass sich eine radikale Kriminalpolitik,<br />

wie sie Forel <strong>und</strong> andere Vertreter der Disziplin postulierten, kaum im Rahmen der anlaufenden Straf-<br />

rechtsreform verwirklichen lassen würde. Es entging ihnen auch nicht, dass die Mehrheit der Schweizer<br />

Juristen keineswegs bereit war, radikal mit dem Schuldstrafrecht zu brechen <strong>und</strong> eine weitgehende<br />

Medikalisierung des Strafrechts ins Auge zu fassen. Offensichtliche Forderungen nach einer Ausweitung<br />

der Sachverständigenkompetenzen, wie sie Forel <strong>und</strong> Frank vorbrachten, wurden denn auch nicht nur von<br />

juristischer Seite abgeblockt. Wollten die Psychiater das Angebot der Strafrechtler zur interdisziplinären<br />

Zusammenarbeit nicht durch einen kriminalpolitischen Maximalismus brüskieren <strong>und</strong> dadurch die An-<br />

schlussfähigkeit ihrer Anliegen im Rechtssystem aufs Spiel setzen, so waren sie gezwungen, ihre Forde-<br />

rungen in eine justiziable Form zu bringen. Selbst Forel war sich bewusst, dass seine Bemerkung über die<br />

«Beseitigung der abscheulichsten Exemplare menschlicher Gehirne» viele Juristen vor einer interdis-<br />

ziplinären Annäherung «abschrecken» konnte. 510<br />

Unter diesen Umständen erstaunt es nicht, dass sich die Disziplin zu Beginn der 1890er Jahre auf eine<br />

Position festlegte, die, wenngleich sie die Berechtigung eines kriminalpolitischen Radikalismus nicht<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich in Frage stellte, eine pragmatische Mitwirkung an der Strafrechtsreform <strong>und</strong> eine reibungslo-<br />

se Kooperation mit den Justizbehörden im Justizalltag in den Vordergr<strong>und</strong> stellte. Paradigmatisch zum<br />

Ausdruck kam diese Strategie in der erwähnten Diskussion von Franks Vorschlägen im Rahmen des Ver-<br />

eins schweizerischer Irrenärzte von 1901/02. Was die Zusammenarbeit mit der Justiz betraf, kritisierte sogar<br />

Bleuler Versuche, kriminalpolitische Forderungen auf dem Wege der Gerichtspraxis zu realisieren: «Da<br />

soll es nun Psychiater geben, welche ihre modernen Ansichten im Widerspruch mit den Gesetzen schon<br />

jetzt in die Praxis umsetzen wollen [...]. Ein solches Vorgehen wäre natürlich höchst verwerflich. Als Ge-<br />

richtsärzte haben wir uns an die bestehenden Gesetze zu halten.» 511 Die im 2. Teil dieser Untersuchung<br />

ausführlich analysierte Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden <strong>und</strong> psychiatrischen Sachverständigen<br />

im Kanton Bern zeigt, dass das Votum Bleulers keineswegs aus der Luft gegriffen war. Die im Kanton<br />

Bern seit den 1880er Jahren festzustellende Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis war be-<br />

zeichnenderweise primär das Resultat einer zunehmenden Inanspruchnahme psychiatrischer Begutach-<br />

tungskompetenzen durch die Justizbehörden im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung. Obwohl die<br />

Berner Psychiater ihre Unzufriedenheit mit dem geltenden Recht keineswegs verhehlten, hielten sie sich in<br />

den untersuchten Fallbeispielen strikte an die von den Justizbehörden vorgegebenen Fragestellungen <strong>und</strong><br />

Handlungsspielräume. 512 Was die Ebene der Rechtspolitik betraf, machte sich der Verein schweizerischer<br />

Irrenärzte in den frühen 1890er Jahren daran, konkrete Reformvorhaben zuhanden der Strafrechtsreformer<br />

zu formulieren, die im Gegensatz zu der von Forel <strong>und</strong> Bleuler propagierten radikalen Kriminalpolitik von<br />

einer generellen Umgestaltung des Strafrechts absahen. Diese pragmatische Mitwirkung der Schweizer<br />

Psychiater am Gesetzgebungsprozess ist Gegenstand des nächsten Unterkapitels.<br />

509 Speyr, 1909, 18.<br />

510 SLA Gq 70/2, Schreiben Auguste Forels an Carl Stooss, 7. Dezember 1887.<br />

511 Bleuler, 1896, 80.<br />

512 Vgl. Kp. 7 <strong>und</strong> 8.<br />

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