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Psychiatrie und Strafjustiz

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geprägt, im Rahmen vorgegebener Möglichkeiten Regeln für eine arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung festzule-<br />

gen, die eine sektorielle Medikalisierung kriminellen Verhaltens erlaubten, ohne jedoch die Gr<strong>und</strong>lagen des<br />

Schuldstrafrechts <strong>und</strong> die herkömmliche Arbeitsteilung zwischen Justizbehörden <strong>und</strong> Sachverständigen in<br />

Frage zu stellen. Paradigmatisch zum Ausdruck kam die Abkehr der scientific community von einer auf Kon-<br />

frontation bedachten Standespolitik 1901/02 anlässlich der Diskussionen über die Thesen Ludwig Franks.<br />

Die Disziplin lehnte dabei die Forderung, dass psychiatrische Gutachten für die Justiz künftig verbindlich<br />

sein sollten, zugunsten einer verstärkten Sensibilisierung der Juristenschaft für psychiatrische Belange ab.<br />

Obwohl der Vorentwurf von 1893 Medikalisierungspostulaten, wie sie von Psychiatern <strong>und</strong> einzelnen<br />

Strafrechtsreformern vorgebracht wurden, lediglich in einem engen Rahmen Rechnung trug, wurde er<br />

Gegenstand eines «Schulenstreits» zwischen den Anhängern des traditionellen Schuldstrafrechts <strong>und</strong> den Straf-<br />

rechtsreformern. Kritiker des Entwurfs sahen vor allem in einer medizinischen Definition der Zurech-<br />

nungsfähigkeit <strong>und</strong> dem neuen Massnahmenrecht einen Angriff auf die Gr<strong>und</strong>feste des Schuldstrafrechts.<br />

Trotz anfänglicher Differenzen zeichneten sich in den verschiedenen Expertenkommissionen schliesslich<br />

Kompromisslösungen ab, die auch seitens der Psychiater nach <strong>und</strong> nach anerkannt wurden. Was die Definition<br />

der Zurechnungsfähigkeit anbelangte, einigte sich die Expertenkommission von 1912 auf eine «gemischte<br />

Lösung», die sowohl den Anliegen der Psychiater, als auch den Befürchtungen vor einer unkontrollierba-<br />

ren Expertenmacht entgegen kam. Die b<strong>und</strong>esrätliche Botschaft präsentierte 1918 schliesslich einen Straf-<br />

gesetzentwurf, der sich zu einer regulativen Kriminalpolitik mittels einer pragmatischen Kombination repres-<br />

siver, medizinischer <strong>und</strong> pädagogischer Instrumente bekannte. Damit verb<strong>und</strong>en war die normative Fixierung einer<br />

arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung, die vor allem im Bereich des Massnahmenrechts deutlich über die<br />

bisherige juristisch-psychiatrische Zusammenarbeit hinausging. Im Gegenzug hielt das künftige Einheits-<br />

strafrecht aber an der strukturellen Koppelung zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> über den Rechtsbegriff<br />

der Zurechnungsfähigkeit fest. Eine Akzentverschiebung erfuhr die Strafrechtsdebatte anlässlich der par-<br />

lamentarischen Beratung des schweizerischen Strafgesetzbuchs zwischen 1928 <strong>und</strong> 1937. Dabei zeigte<br />

sich, dass strafrechtliche Fragen inzwischen gegenüber der staatspolitischen Gr<strong>und</strong>satzfrage der Rechts-<br />

einheit merklich an Relevanz eingebüsst hatten. In kriminalpolitische Fragen bestanden allerdings nach<br />

wie vor wesentliche Differenzen zwischen einer freisinnig-sozialdemokratischen Mehrheit <strong>und</strong> einer ka-<br />

tholisch-konservativen Minderheit, wenngleich Befürchtungen vor einer zu weitgehenden Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens auch im bürgerlichen Lager gegenüber der Vorkriegszeit deutlich an Boden ge-<br />

wonnen hatten.<br />

Medikalisierungstendenzen in der Justizpraxis<br />

Eine Hauptabsicht dieser Untersuchung war, die Analyse von Medikalisierungstendenzen im Bereich des<br />

Strafrechts nicht auf die Ebene der Rechtspolitik zu beschränken, sondern zusätzlich die Herausbildung<br />

einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung durch <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> auf der Ebene der Justizpraxis<br />

zu untersuchen. Dadurch sollte eine vorschnelle Gleichsetzung juristisch-psychiatrischer Leitdiskurse mit<br />

der gesellschaftlichen Praxis der Kriminalitätsbewältigung vermieden werden. Im Laufe der Untersuchung<br />

wurde denn auch deutlich, dass sich das Verhältnis von Rechtspolitik <strong>und</strong> Justizpraxis nicht im Sinne eines<br />

eindimensionalen Implementierungsmodells beschreiben lässt. Das untersuchte Fallbeispiel des Kantons<br />

Bern zeigt, dass sich zwischen 1890 <strong>und</strong> 1920 Medikalisierungstendenzen in der Justizpraxis durchzuset-<br />

zen vermochten, lange bevor der langwierige Gesetzgebungsprozess auf B<strong>und</strong>esebene zu einem Abschluss<br />

gelangte. Sowohl was die Begutachtungs-, als auch die Massnahmenpraxis anbelangt, antizipierte die Berner<br />

Justizpraxis das Leitbild einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung, auf dem das spätere Einheits-<br />

strafecht beruhen sollte, <strong>und</strong> modifizierte dadurch den gesellschaftlichen Umgang mit kriminellem Verhal-<br />

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